Putin: Von einem, der auszog, das Fürchten zu lehren
Seite 2: "The Sound of Heimat"
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Putin und seine Getreuen sind miserable Erzähler. Aber das Erzählen ist auch im Westen längst zu einer Mischung aus Dichtung und Wahrheit verkommen. Die mentale Aneignung der ukrainischen Ost-Provinzen als eines integralen, wenn nicht sogar natürlichen Teils des russischen Reiches klang aus den Statements von russischer Seite deutlich heraus, das wird niemand bestreiten wollen. Putin hat nicht geblufft. Sein Nicht-Bluffen war der Bluff.
Das Narrativ der angeblichen Unterdrückung russischer Volksgruppen (Moskaus Rede vom "Genozid") stiftete den Bezugsrahmen kollektiver kultureller Identität, "The Sound of Heimat". Mit solcher Art Tricks hat Deutschland eigentlich selbst hantiert, das ist noch gar nicht so lange her. Und dasselbe macht Putin. Ist doch keine Überraschung – nicht wirklich.
Raum, Geschichte und Struktur: Das meint nicht die geografischen, ethnografischen und geopolitischen Faktizitäten, auch nicht unbedingt den faktischen Hergang der Geschichte, sondern im Wesentlichen das, was Protagonisten daraus machen. Historische und kulturelle Argumente dienen zur Legitimierung von Vorherrschaft.
In Putins pathetischer Gesamtvision von Heimat vermischen sich strategischer Raum, Kulturraum und Seelenraum. Daneben zeigt sich das Selbstverständnis Putins. Hybrides Identitätsgefühl, das unterschiedliche Teilidentitäten des verlorenen wie des heutigen Russland darstellt, die sich eigentlich nicht mehr sinnvoll integrieren lassen.
Eine Zeitleiste der Ereignisse seit 1991 hier.
Moskaus Ideologie (und verlorene Hoffnung), die Ukraine und alle Ukrainer als Repräsentanten der russischen Welt anzusehen, dürfte mit deren entschlossener Hinwendung zum Westen gestorben sein. Was wir derzeit erleben, ist so gesehen ein verzweifelter Versuch, Reste der Idee zu retten, so, wenn Putin von einem "Genozid" im Osten des Landes spricht.
Ein Vergleich des Schicksals der Ostukraine mit dem der baltischen Staaten zeigt naheliegende Konstanten: Das propagandistische Instrumentarium einer Annexion der Ostseeküste wurde vom russischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts erarbeitet. Es lässt sich heute, 2022, auf die Ukraine übertragen. Und, wie jedermann sieht, die Erzählung lässt sich jederzeit reaktivieren. Putin macht es vor.
Auf der anderen Seite: Die Ukraine als Naturschutzpark westlicher Harmonie hat ausgedient. Aus der Tradition der westlichen Kritik des 19. Jahrhunderts geistert noch das Moment der russischen Gefahr, samt dem stereotypen Bildervorrat: Da ist ein Apparat, eine bedrohliche Maschine, eine abstrakte Masse von "roten Gewalttätern". Da ist noch Nachhall des Bolschewismus, ein Synonym für Unwert.
Tut es auch: Der böse reiche Russe
Sie sind seltsam stabil, die Kategorien der Weltwahrnehmung, inclusive nationaler (und auch supranationaler) Stereotype und Mittel der Übertreibung und Überzeichnung, übrigens auf beiden Seiten.
Resümee: In der europäischen Endspieldatenbank war die putinsche Kombination offensichtlich nicht enthalten. What a shame.
So begründet die EU Sanktionen gegen russische Politiker und Journalisten (23 Bilder)
Dann halten wir uns wenigstens an die Mär vom bösen reichen Russen, der irgendwie das System verkörpert. Die Realitäten bieten unterdes willkommenen Anlass dazu, muss man sagen. Nehmen wir nur die russischen Oligarchen in ihren unverschämten Penthous-Domizilen, noch dazu ausgerechnet in London, der Weltzentrale des Finanzkapitalismus.
Und weil wir im Westen gern mit der Quote kommen: Ja, es gibt sie, die richtig reichen russischen Frauen!
Das Trauma im Baltikum
Das gehört noch gesagt:
Gestern Abend (24.02.) wurde in den Tagesthemen der lettische Präsident Egils Levits interviewt. Bei den baltischen Anrainern Estland, Lettland, Litauen ruft Putins Raubzug traumatische Erinnerungen wach. Hier weiß man, dass "Autonomie" in russischen Ohren bedrohlich klingt.
Und man hat reichlich Erfahrung mit "Russifizierung". Nach siebenhundert Jahren Dominanz deutscher und hundert Jahren russischer bzw. sowjetischer Vorherrschaft ist etwa auch für Lettlands Nachbarn Estland die Nato-Mitgliedschaft so etwas wie ein Sehnsuchtsort, Ankunft im gelobten Land.
Der Krieg nebenan reißt die baltischen Länder insofern gerade aus ihrer Gefühlswelt und aus ihrem Alltag. Eine russische Minderheit befürwortet teilweise auch noch Putins Vabanquespiel.
In der Region wird auf brutale Weise deutlich, was die Ukraine für Moskau eigentlich darstellt: Sammelbecken ethnografischen Materials, das früher oder später in den "Kulturraum" des großen Bruders aufgeht. Und, wie es aussieht: Die Würfel sind gefallen.
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