Queere Praxis

Seite 2: Rigorismus

Diese Moralität führt unweigerlich auch Streitigkeiten in der bunten Bewegung selbst herbei, weil und wenn die Identitäten und Diskriminierungen zueinander in Konkurrenz treten und auf Wertschätzung dringen.

Im Nachgang zum Bewertungsstreit zwischen dem klassischen und queeren Feminismus über die migrantischen Übergriffe auf Frauen in der Kölner Silvesternacht 2015/16 kam bei Letzterem die ambivalente Frage auf, "wie wir einen nicht-rassistischen, antisexistischen Diskurs führen können, der zugleich ein nicht-sexistischer, antirassistischer Diskurs ist" (Judith Butler u. Sabine Hark, Zeit 2.8.17).

Als weitere Beispiele stehen die Akronyme FLINT und TERF. FLINT-Räume sind "nur für Frauen sowie lesbische, inter*, non-binary und trans* Personen offen", grenzen also auch solche cis-Männer aus, die dem Feminismus zugetan sind oder sich z.B. nicht-binär definieren und sich daher diskriminiert fühlen.

Größere Wellen schlagen die "TERF Wars" (siehe hier, hier oder hier), wo sich genderkritische mit LGBT-Feministinnen, etwa J. K. Rowling und Alice Schwarzer mit Judith Buttler und Laurie Penny zum Beispiel um die Frage streiten, ob bei Trans-Männern die biologische oder die Gender-Identität höherwertig sein soll. An angelsächsischen Unis wird deshalb auch die eine oder andere Vorlesung boykottiert.

Der moralische Rigorismus verlangt schließlich nach sichtbaren Zeichen seiner Akzeptanz und Anerkennung. Dies fordern oft vorauseilend auch diejenigen, die von den Diskriminierungen nicht unmittelbar betroffen sein müssen.

Ihre Moralität gebietet ihnen aber eine Mitverantwortung von sich und ihrem abstrakten Kollektiv über Raum und Zeit hinweg. Das betrifft Mohren-Apotheken, die Frage, ob das Wort Rasse rassistisch ist, ein vermeintlich frauenfeindliches Gedicht an der Außenwand einer Hochschule, Bismarck-Denkmäler, über die People of Color entscheiden sollen oder auch diesen Fall:

An britischen Universitäten werden derzeit naturwissenschaftliche Größen wie Isaac Newton einer rassismuskritischen Inspektion unterzogen. Newton wird vorgeworfen, als Aktienbesitzer vom Kolonialismus seiner Zeit profitiert zu haben. In manchen Schulen soll man nun nicht mehr von Newtons Gesetzen sprechen.

FAZ

Über Phänomene dieser Art kann Dieter Nuhr natürlich Lacher verbuchen. Andere dürfen sich über die ‚Barbarei‘ namens Cancel Culture künstlich aufregen. Ein Alt-Bundestagspräsident bittet dann darum, den Dialog nicht abreißen zu lassen ...

Nicht, dass man jeder umgeschmissenen Statue nachtrauern müsste. Bloß ist die Regenbogen-Variante von Cancel Culture der Endpunkt eines moralischen Empowerments, das in der bürgerlichen Sittlichkeit seinen Anfang hat.