RAF, LSD und Graninisaft

Verschwende deine Jugend - Über deutschen Punk und New Wave

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Was von der Bezeichnung her grausam an Formate wie die "Doku-Soap" oder das "Doku-Drama" gemahnt, entpuppt sich erfreulicherweise als eine zeitlich und sachlich strukturierte Sammlung von Oral-History-Geschichtsquellen. Jürgen Teipel hat in seinem nach einem DAF-Hit "Verschwende deine Jugend" benannten Doku-Roman an die hundert Zeitzeugen interviewt und deren Schilderung der Geschehnisse um die Jahre 1976-1982 zusammengefügt.

Der Spiegel, 1978

"Verschwende deine Jugend" konzentriert sich auf den kulturellen Großraum Düsseldorf (der damals offenbar bis nach Solingen und Wuppertal reichte), Hamburg und Berlin. Trotz dieser örtlichen Einschränkung deckt Teipel dabei von den Fehlfarben bis zu den Einstürzenden Neubauten fast alle wichtigen Projekte ab. Dabei kam ihm zugute, dass die wichtigsten Protagonisten dieser Zeit häufig in den gleichen Bands spielten oder anderweitig zusammenwirkten.

Ob die trotzdem vorhandenen Schwerpunkte mehr von der Auskunftsfreudigkeit der interviewten Personen oder von Teipel bestimmt wurden, geht nicht aus dem Buch hervor. Zu kurz gekommen scheinen lediglich die Zimmermänner (in mancher Hinsicht die erste deutsche Popband und Vorläufer der Antwort und Echt) sowie X-mal Deutschland, die nur am Rande als Bierdosenwerfer erwähnt werden. Mehr Äußerungen hätte man sich auch von und über Andreas Banaski erwartet, der als Kid P. im Alleingang den deutschen Pop-Journalismus begründete und dessen Apodiktik und Sarkasmus später ganze Generationen von Tempo- und Jetzt-Autoren ähnlich inadäquat nachahmten, wie Eingeborene von Südseeinseln dies nach dem zweiten Weltkrieg mit amerikanischen Flugzeugen aus Schilfrohr versuchten.

Die größte Leistung Teipels ist es, mit den monokausalen Erklärungsmustern zur Entstehung von Punk aufzuräumen: dass Punk wahlweise aus Situationismus, Glamrock oder Jugendarbeitslosigkeit entstand. Hier erzählen stattdessen Peter Hein und andere über die einigende Kraft von Airfix-Plastiksoldaten und Modellbau in Düsseldorfer Punk-Kreisen, über die Ablehnung von sowohl Hasch als auch Bier und die Bevorzugung des "dicken Pfirsichnektar von Granini" {S. 53}, während andere RAF-Fantum und LSD als Einstiegsgrundlage in die Bewegung angeben.

Gerade die Anfänge dieser Bewegung erscheinen dem jüngeren Leser fremd und seltsam: dass musikalische Projekte einmal Namen wie "Kriminalitätsförderungsclub" (KFC) haben konnten, führt ihm in einer Gegenwart, in der Bands als "kriminelle Vereinigung" verboten werden können (Vgl. Ein Erfolg des Berliner LKA), vor Augen, dass die Entwicklung in der Bundesrepublik nicht unbedingt in Richtung von mehr Meinungsfreiheit und weniger Zensur geht. Und wenn der nationalsozialistischen Gedankenguts unverdächtige Jäki Eldorado von der Verwendung von Hakenkreuzen als Provokationssymbol erzählt {S. 17}, wird klar dass die späten 70er und frühen 80er eine Zeit waren, in der offenbar nicht jedes in eine Schulbank eingeritzte Provokationssymbol zur Mittelbewilligung für die Polizeistatistik gesammelt wurde.

Jäki Eldorado leckt am Bein von Iggy Pop

Trotzdem erhält man beim Lesen des Buches den Eindruck, dass auch die siebziger Jahre in Deutschland nicht bunt, sondern eher eine Mischung aus Nachkriegsdeutschland, politisch korrekten Denkverboten und beginnendem Ökofaschismus waren. Den spielerischen Umgang mit Technik, der bei amerikanischen Hippies wie Stewart Brand oder John Perry Barlow die Brücke vom LSD zum Apple-Computer schlug (Vgl. We Owe It All To The Hippies), gab es in Deutschland nicht bzw. schien er Mitte der 1970er verloren gegangen zu sein.

Nach Moritz R waren solch ein spielerischer bzw. affirmativer Umgang mit Technik und der Wiedereinlass des Humors und der Veränderung in Kultur und Politik verbindende Elemente dieser Bewegung {S. 83}, die mit dem Begriff "Punk" für spätere Generationen durchaus verwirrend etikettiert ist. Liest man nämlich die Schilderungen der Zeitzeugen, erhält man den Eindruck, dass Punk Ende der 1970er etwas grundlegend anderes gewesen sein muss, als Offspring und alkoholisierte Hundehalter heute vermuten lassen.

Nicht Blecheimer oder Luftpumpe, sondern der Lötkolben schien das prägende Instrument für die Entstehung der Neuen Deutschen Welle gewesen zu sein: Frieder Butzmann baute Anfang der 1970er Jahre Tongeneratoren nach Schaltplänen aus der Stadtbibliothek {S. 117-118}; Mittagspause benutzten Daten von Rank-Xerox -Computerkassetten als Töne {S. 147}und der Pyrolator beschäftigte sich schon 1970 mit dem Spielcomputer Logicus, mit dem sich mit Steckern und Drähten logische Gatter bauen ließen {S. 47}. Selbst beim Sequenzer Brontologic, den der Plan später einsetzte, mussten die Takte noch über Steckverbindungen hergestellt werden. Dass dieser spielerische Umgang mit Technik durchaus nicht mit Staatsergebenheit einhergehen musste, belegt u.a. der wieder aktuelle Themenhit zur Rasterfahndung, "Computerstaat" von Abwärts.

Etwas ermüdende Stellen in Teipels Buch sind die immergleichen Erzählungen von Schlägereien, die sich wie ein ungereimter Vorläufer von deutschen Hip-Hop-Tall-Tales anhören; hochinteressant dagegen sind die Schilderungen ökonomischer Entwicklungen.

Der von Teipel dokumentierte Abschnitt der Musikgeschichte ist nämlich nicht nur wegen des derzeitigen Früh-1980er-Revivals (mit Punk-T-Shirts, Nietengürtel und einer Kreuzung aus Remix und Coverversion von Malarias Kaltes Klares Wasser in den Hitparaden) interessant, sondern auch und vor allem als ein Beispiel, wie sich Musiker für kurze Zeit aus der Umklammerung der Musikbürokratie und ihrer Standardverträge befreien (die ihnen für Auftritte als Vorgruppe sogar noch Geld abverlangten, anstatt ihnen welches zu bezahlen) und Produktion und Vertrieb in die eigenen Hände nehmen. Der Versuch scheiterte letztlich an der Pleite der beiden unabhängigen Vertriebe Rip Off und Eigelstein. Die Produktion wurde im Laufe der 1980er und 1990er durch die Elektronik den Konzernen auf längere Sicht entrissen. Diese versuchten daraufhin mit Klagen gegen Sampling teilweise recht erfolgreich ihre durch die technische Entwicklung verlorenengegangene Macht auf juristischem Wege wieder zurückzugewinnen. Heute jedoch stehen nicht nur Produktions-, sondern auch Verbreitungstechnologien zur Verfügung, die den Kampf um die Kontrolle der Musik neu entzündet haben.

Eine andere Schnittstelle zu den großen Debatten der Gegenwart ist der freie Umgang mit vorhandenem Material, etwa mit Bildern aus dem Stern, ohne sich große Sorge um das Copyright oder das Recht zur Verfremdung zu machen. Dieser freie Umgang war nach Carmen Knöbel eine der Voraussetzungen für die kulturelle Explosion in Düsseldorf Ende der 1970er{S. 190}.

Durch die "jeder-kann-es"-Attitüde entstanden unbeabsichtigte Karrieren in Musik und Malerei, die manche Leute, wie etwa Peter Hein, tatsächlich zugunsten einer Bürostellung bei Rank Xerox wieder aufgaben. In einer Zeit, in der auch Bankangestellte ihren "Beruf" realistisch nur noch als Etappe betrachten können (Vgl. 3,400 Jobs to Be Cut at Commerzbank), wird an Lebensläufen wie dem des Fehlfarben-Sängers besonders deutlich, wie sehr sich die Haltung zu Arbeitsverhältnissen in den letzten zwanzig Jahren verändert hat. Andere NDW-Musiker arbeiten heute als Heilpraktiker oder Analysten und Xao Seffcheque verkauft mittlerweile sogar Häuser in Italien über das Internet.

Der Soundtrack zu Teipels Buch ist im Jahre 2001 unterschiedlich leicht bzw. schwer zugänglich. Das reicht von der tödlichen Doris, die ihr Gesamtwerk im Netz zur Betrachtung freigaben, oder dem Plan , dessen Werke fast komplett auf CD erhältlich sind, über Stücke von Mania D, die sich nur noch mittels Filesharingprogrammen finden lassen, bis hin zu Projekten wie dem Kriminalitätsförderungsclub, der scheinbar vollkommen in Vergessenheit geriet.

Zu Teipels Buch gibt es jetzt auch eine Webseite: www.gesellschaftsinseln.de enthält Leseproben, biografische Notizen der befragten Personen, zusätzliche Bilder, eine erweiterte Chronologie, eine Liste mit Band- bzw. Künstlernamen, Faksimile-Scans alter Dokumente und ein Forum an das Anmerkungen aller Art, Bildmaterial, Audiodateien, Links, Scans von alten Bildern, Artikeln, Flyern oder Buttons geschickt werden können.

Jürgen Teipel, Verschwende deine Jugend. Ein Doku-Roman zum deutschen Punk und New Wave, Frankfurt/M: Suhrkamp 2001, 375 Seiten, 19,90 DM.