Racheakt oder Amok?
Die Bluttat von Hamburg hatte offenbar eine Vorgeschichte. Über die psychische Verfasstheit von Massenmördern. Und was die Morde mit dem Suizid des Täters zu tun haben könnten.
Wieder einmal müssen wir von einer amokartigen Tat berichten. Am Abend des gestrigen 9. März schoss in Hamburg ein Mann zunächst von außen auf ein Gebäude, in dem sich Mitglieder der Religionsgemeinschaft Zeugen Jehovas versammelt hatten. Dann drang er in das Haus ein und begann, mit einer Pistole auf die Anwesenden zu schießen.
Bei der Bluttat starben acht Menschen, unter ihnen soll sich auch der Schütze befinden. Ferner wurden etliche Personen verletzt. Eine Spezialeinheit der Polizei fuhr offenbar gerade zufällig an dem Gebäude vorbei, als die ersten Schüsse fielen, und war infolgedessen rasch am Tatort.
Ersten Berichten zufolge soll der Täter zwischen 30 und 40 Jahre alt und ein ehemaliges Gemeindemitglied der Zeugen Jehovas gewesen sein. In diesem Fall wird man wahrscheinlich eher von einem gezielten Racheakt als von einer Amoktat ausgehen müssen. Zum klassischen Amok gehört, dass keine spezifische Täter-Opfer-Beziehung existiert, sondern die Opfer blind und zufällig gewählt werden.
Was den Racheimpuls ausgelöst hat, ist noch völlig unklar. Häufig sind es Zurückweisungserfahrungen und Kränkungen, die dem späteren Täter zugefügt wurden. Die nicht gerade demokratisch zu nennende, theokratische innere Struktur der Zeugen Jehovas bietet kränkungsanfälligen und narzisstisch verwundbaren Mitgliedern gegenüber sicher zahlreiche Reibungsflächen und Zündstoff.
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Die Ermittler gehen davon aus, dass der Täter am Ende seines mörderischen Wütens die Waffe gegen sich selbst richtete. Die ins Gebäude vordringenden Polizisten gaben selbst keine Schüsse ab. Sie hörten noch einen Schuss aus dem Obergeschoss des Gebäudes, wo man kurz darauf die Leiche des mutmaßlichen Täters fand.
Amok und Suizid
Das ist eigentlich das klassische Ende eines Amoklaufs, wenn man das so sagen kann. Wobei die Logik dieses Schlussakts häufig eine andere ist, als man landläufig annimmt. Der sogenannte gesunde Menschenverstand vermutet, der Täter töte sich am Ende selbst aus Schuldgefühlen aufgrund dessen, was er angerichtet hat. Die von ihm begangenen Morde seien die Ursache für seinen Suizid.
Was aber wäre, wenn es sich genau umgekehrt verhält? Der Täter benötigt in diesem Fall den Umweg über die Tötung anderer, um endlich Hand an sich legen zu können. Die Suizidabsicht ist die Ursache seiner Morde.
Er schafft es nicht, einfach auf den Speicher zu gehen und sich aufzuhängen. Er muss sich erst durch seine mörderischen Handlungen in eine ausweglose Lage bringen, um dies vollbringen zu können.
Im letzten Stadium seines Rachefeldzugs droht dem Täter die Kontrolle über die Situation zu entgleiten. Im Innern des Gebäudes herrschte ein unbeschreibliches Chaos, Flure und Treppenhäuser sind angefüllt von einer Stampede in Panik fliehender Menschen, die versuchen, sich irgendwo in Sicherheit zu bringen.
Von draußen dringen Polizeisirenen zu ihm vor und signalisieren ihm, dass das Gebäude jeden Moment gestürmt werden kann. Er ist nicht mehr Herr der Lage wie zu Beginn des Amoklaufs, als sich alle Trümpfe in seiner Hand befanden. In diesem Moment, in dem der Amoklauf an seinen kritischen Punkt gekommen ist, wird der Täter von Panik erfasst, die ihn endlich ermächtigt, die Waffe gegen sich selbst zu richten. Er hat jetzt nur noch die Wahl, sich von den Sicherheitskräften erschießen zulassen oder sich selbst zu töten.
Bleibt natürlich in all diesen Fällen die Frage, was den Täter in eine derartige Lage versetzt hat. Aus Anlass des 20. Jahrestags des Amoklaufs am Erfurter Gutenberg-Gymnasiums bin ich dieser Frage noch einmal nachgegangen. Und auch der Frage, womit es zusammenhängen mag, dass es in den letzten Jahren gehäuft zu solchen Amok-Taten kommt.
Götz Eisenberg ist ein deutscher Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete als Gefängnispsychologe und ist Autor zahlreicher Bücher. Eisenbergs Durchhalteprosa erscheint regelmäßig bei der GEW Ansbach.