"Radikale Energiewende"

Gelände des Kernkraftwerk Isar (KKI). Foto (vor 2008): E.ON Kernkraft GmbH/CC BY-SA 3.0

Energie- und Klimawochenschau: Wie sehen die Alternativen zum russischen Erdgas aus? Von der verdrängten Klimakrise, von russischer Kohle und einem galoppierenden Ölpreis

Man sollte ja meinen, dass sich die Menschheit langsam mal um die sich vor ihr auftürmenden Krisen-Berge kümmern sollte. Doch stattdessen scheinen diesseits und jenseits der polnischen Ostgrenze alle nur an einer weiteren Eskalation der Konfrontation zu arbeiten.

Dabei wären da zum Beispiel die neusten Nachrichten aus dem Regenwald im Amazonasbecken. Eine am Montag im Fachblatt Nature Climate Change veröffentlichte Studie kommt zu dem Schluss, dass der Wald sich einer kritischen Schwelle nähert, in dem er den schwerer ausfallenden Trockenzeiten und den zunehmenden Rodungen nicht mehr widerstehen kann.

Seine Selbstheilungskräfte erschöpfen sich, und die ganze Landschaft könnte sich in eine Savanne verwandeln; drei Viertel des riesigen Urwaldes hätten in den letzten etwa 20 Jahren bereits ihre Widerstandskraft verloren.

Die Folgen wären ein gewaltiger Verlust an Artenvielfalt. Unter anderem würden zahllose medizinisch verwendbare Pflanzen verloren gehen, von denen noch immer erst ein Bruchteil erforscht und bekannt ist.

Außerdem würden Hunderttausende Menschen, die vom und im Wald leben, ihre Lebensgrundlage verlieren. Und nicht zuletzt würde das großflächige Absterben des Waldes große Mengen des Treibhausgases Kohlendioxid (CO2) freisetzen.

Quälende Fragen: Brauchen wir das russische Gas?

Aber wenden uns den energiepolitischen Problem zu, die dieser Tage die hiesige Debatte bestimmen: Brauchen wir das russische Gas? Soll der Gashahn zugedreht werden, um der russischen Regierung eine Einnahmequelle zu verstopfen? Sind die jüngsten Drohungen aus Moskau ernst zu nehmen, die Gaslieferungen über Nord Stream 1 zu stoppen?

Sollte Deutschland Russland zuvorkommen, wie es aus der FDP-Fraktion gefordert wird? Solche und ähnliche Fragen geistern seit dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine vor nunmehr rund zwei Wochen durch die Öffentlichkeit.

Verschiedene westlichen Energiekonzerne stoßen inzwischen ihre Beteiligungen in Russland ab und der britisch-niederländische Energiemulti Shell, der andernorts keine Probleme hat, mit blutigen Diktatoren zusammenzuarbeiten, verkündet, den kurzfristigen Kauf von Erdöl und Gas aus Russland einstellen zu wollen. Längerfristige Verträge würden nicht verlängert und die Shell-Tankstellen in Russland geschlossen, wie der Spiegel berichtet.

Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina hält in ihrer am gestrigen Dienstag veröffentlichten "Ad-hoc-Stellungnahme zur sicheren Energieversorgung" den Verzicht auf russisches Gas für möglich.

Die Autorinnen und Autoren, darunter Energieökonomen wie Ottmar Edenhofer vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung, verweisen darauf, dass etwas mehr als die Hälfte des in Deutschland verbrauchten Erdgases aus Russland importiert wird. Um sich davon unabhängig zu machen, wird ein kurz-, mittel- und langfristiges Maßnahmenpaket vorgeschlagen.

Was sind die Alternativen?

Kurzfristig solle Flüssiggas (LNG) auf dem Weltmarkt, das Pipelinesystem stärker staatlich reguliert, die Gasspeicher gefüllt und im Stromsektor Gas durch Kohle ersetzt werden. Da dies die Energiekosten in die Höhe treibt, sollten Unternehmen bei den Energiesteuern entlastet und die "Belastungen der Bürgerinnen und Bürger mit niedrigen und mittleren Einkommen sozial abgefedert (werden)".

Mittel- und Langfristig wird unter anderem der Aufbau einer Wasserstoffversorgung und der Ausbau der erneuerbaren Energieträger angeregt. Einerseits werden neue LNG-Terminals gefordert, andererseits eine beschleunigte "Transformation zur Klimaneutralität gefordert". Doch wie passt das angesichts der Tatsache zusammen, dass das zurzeit auf dem Weltmarkt zusätzlich verfügbare Mengen an LNG oder Flüssiggas vor allem aus den USA stammen und dort mit dem besonders klimaschädlichen Fracking-Verfahren gewonnen wird?

Der Kohleausstieg soll trotzdem bis 2030 geschafft werden. Immerhin kämen 50 Prozent der Steinkohleimporte aus Russland. Die Frage wird also sein, ob diese eingestellt und gegebenenfalls durch Einfuhren aus anderen Ländern ersetzt werden. Aber was dann?

Werden die Braunkohlekraftwerke wieder mehr Strom liefern, jene Kraftwerke also, die den größten CO2-Ausstoß pro erzeugter Kilowattstunde haben? Oder werden russische Importe durch Einfuhren aus Kolumbien ersetzt, wo der Abbau mit schweren Menschenrechtsverletzungen verbunden ist?

Und was passiert, wenn Russland längerfristig gänzlich von Westeuropa ökonomisch entkoppelt würde? Immerhin sind enge ökonomische Verflechtungen zwar kein Garant für friedfertige Kooperation, doch zumindest ein Hemmschuh für allzu aggressive Konfrontation.

Ein wirtschaftlich destabilisiertes Russland würde hingegen mit oder ohne Putin einen erheblichen Unruheherd in unmittelbarer Nachbarschaft darstellen – ein Traum für alle, die Polizei und Militär weiter aufrüsten wollen, und ein Alptraum für jene, die an einem friedlichen Zusammenleben auf diesem Planeten interessiert sind.