Ralf Stegner: Applauskönig in der Filterblase

"Kandidierende" für den SPD-Bundesvorsitz

Kommentar: Die erste von 23 SPD-Castingkonferenzen senkt die Hoffnungen auf eine grundlegende Erneuerung der Partei

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Ein größerer Gegensatz als der zwischen der gestern von der BBC übertragenen Debatte im britischen Parlament und der teilweise gleichzeitig auf Phoenix ausgestrahlten ersten von 23 "Regionalkonferenzen", auf denen sich die Bewerberduos für den SPD-Vorsitz vorstellen, ist kaum denkbar. Auch (und vor allem) was den Unterhaltungswert betrifft. Der war in der 804 Jahre alten Einrichtung ungleich höher als in der ganz neuen.

Das lag zum Teil am Personal (oder an den "Kandidierenden", wie das bei der SPD heißt): Ein Jacob Rees-Mogg oder ein Boris Johnson ist bei den deutschen Sozialdemokraten nicht in Sicht. Es lag aber auch an den Regeln, die man in London kreativ ausreizte bis ein Sprecher mit bemerkenswert ungekämmtem Haar zu den Schlägen eines Holzhammers zur Ordnung rief. Dabei regten sich manche auf. Aber noch mehr schienen sehr viel Spaß dabei zu haben.

Selbsthilfegruppe und Shopping Queen

Bei der SPD hatte man demgegenüber den Eindruck, eine nur mit gezwungenem und nicht wirklich spontanem Humor aufgelockerte Sitzung einer Selbsthilfegruppe zu beobachten, bei der sich die Teilnehmer auffällig zwanghaft und unpassend oft explizit duzen und mit dem Vornamen ansprechen (was in Sozialen Medien gestern zu einer abgrenzenden Renaissance des "Sie" führte).

Während sich in der saarländischen Hauptstadt draußen das wirkliche Leben abspielte debattierte man in der Congresshalle Saarbrücken in einem optischen Rahmen irgendwo zwischen, Herzblatt Shopping Queen und Deutschland sucht den Superstar, was die SPD bloß machen soll, um beliebter zu werden. Denn das klappt bei ihr immer weniger. Obwohl sie doch genau das macht, was ihr Massenmedien vorgeben.

Wiedererkennungsmerkmale

Um hier Unterschiede zwischen den Kandidaten auszumachen, musste man beim Wiederabspielen schon genau hinhören. Die Formulierung "17 Köpfe, eine Meinung", die der ehemalige stellvertretender Focus-Chefredakteur dafür fand ist zwar kurz, aber nicht ganz unzutreffend. Am ehesten setzte sich noch der "queerpolitische Fraktionsbeauftragte" Karl-Heinz Brummer ab, der Willy Brandt mit dem Satz "gute Politik beginnt mit dem Erkennen der Wirklichkeit" zitierte und vorsichtig die Möglichkeit in den Raum stellte, dass bei Polizei und Justiz womöglich Handlungsbedarf besteht, wenn Schichtarbeiterinnen über Angst beim nächtlichen Nachhausegehen klagen.

Trotzdem bemühten sich auch andere Kandidaten redlich, nicht nur optische, sondern auch inhaltliche Wiedererkennungsmerkmale anzubieten: Beim Fliegenträger Karl Lauterbach war das der Schwerpunkt auf die Gesundheitspolitik, bei dessen Partnerin Nina Scheer das Klima, bei Saskia Esken (die zusammen mit dem ehemaligen nordrhein-westfälischen Finanzminister Norbert Walter-Borjans kandidiert) die "Digitalisierung", bei Christina Kampmann das Ausgeben von mehr Geld, bei Michael Roth die "Vereinigten Staaten von Europa", bei Olaf Scholz Respekt für Kellnerinnen und bei Simone Lange und Alexander Ahrens der Blitzrückzug zugunsten von Borjans.

Kluft zwischen den SPD-Mitgliedern und ihren ehemaligen Wählern

Überraschenderweise hatte gerade Ralf Stegner mit seinem inhaltlichen ("mehr Steuern") und optischen Erkennungsmerkmalen (herabhängende Mundwinkel) einen Konkurrenten bekommen, der ihn in beiderlei Hinsicht zu übertrumpfen versuchte: Den Verdi-"Chefökonomen" Dierk Hierschel, der zusammen mit der Bundestagsabgeordnete Hildegard Mattheis antritt. Den meisten Applaus bekam Stegner (der zusammen mit der zwei Mal erfolglosen Bundespräsidentschaftskandidatin Gesine Schwan kandidiert) trotzdem.

Allerdings weist Paetows sarkastische Bemerkung, dass das "alle, die der SPD ein schnelles Ende wünschen, begeistern" dürfte, darauf hin, dass der meiste Applaus in einer Filterblase nicht mit mehr Applaus außerhalb dieser Filterblase einhergehen muss. Manfred Güllner, der Chef des Umfrageinstituts Forsa, suggeriert da eher das Gegenteil (vgl. SPD: Muss Stegner weg?).

Der Applaus für Stegner könnte auch ein Hinweis darauf sein, wie tief die Kluft zwischen den SPD-Mitgliedern und ihren ehemaligen Wählern mittlerweile ist (vgl. Diskrepanz zwischen Wähler- und Funktionärswillen). Besonders gut sichtbar wird das bei der Berliner SPD, wo dem Tagesspiegel zufolge niemand bestreitet, "dass die eigene Mitgliedschaft die Bevölkerungsstruktur schon lange nicht mehr widerspiegelt.

Als das noch anders war, da war die SPD noch nicht so erfolglos wie heute. Mit anderen Mitgliedern und einer anderen Führung fuhr sie deutlich bessere Ergebnisse ein. Viele davon sind heute tot. Andere sind hochbetagt und melden sich ab und an noch mit Ratschlägen, die geflissentlich ignoriert werden. Aktuell gilt das gerade für die Tipps des ehemalige Münchner und Berliner Oberbürgermeisters und Bundesbauministers Hans-Jochen Vogel, der sich vehement gegen die aktuellen Berliner Mietrechtsexperimente ausspricht und stattdessen ein Abschöpfen der nicht privat, sondern kommunal erzeugten Wertzuwächse beim Ausweisen von Bauland anregt.

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