Rammstein: Noch keine Beweise, aber neue Missbrauchs-Vorwürfe
Konzerte in Berlin ausverkauft. Kultursenator schließt Verbot aus. Erregung über Vorwürfe bleibt unversöhnlich hoch. Update: Anwälte erwirken Verbot gegen Passagen in einem Spiegel-Artikel über die Band.
Die Musik von Rammstein hat das Anwesenheits-Plebiszit gewonnen. Alle drei Konzerte der Band in Berlin (16., 17. und 18. Juli) sind ausverkauft. Das Konzert am vergangenen Samstag wurde von 60.000 bejubelt. Forderungen nach einem Verbot der Rammstein-Konzerte wurden von Berlins Kultursenator Joe Chialo abgeschmettert.
Zwar seien sie emotional verständlich, rechtlich gebe es aber keinen Hebel, sagte er. Chialo betonte, dass er immer auf der Seite der Opfer stehe und die Vorwürfe der Frauen sehr ernstnehme. Doch gelte die Unschuldsvermutung, so der Kultursenator von der CDU. Dies unterlegte er mit einer Spitze.
Ich habe das Gefühl, dass gerade die Geschwindigkeit der Ereignisse alles zu einer besonderen Herausforderung macht. Ich bin sehr vorsichtig, aus diesem Spin immer gleich Handlungsanleitungen abzuleiten.
Joe Chialo
Die Zahl der Demonstranten gegen das Rammstein-Konzert in Berlin am Sonntag konnte es mit 300 Teilnehmern nicht gegen die Besucherzahl bei Konzert ("an die 60.000") aufnehmen. Zum Glück verlief das Aufeinandertreffen von Fans und Kritikern laut Medienberichten weitgehend friedlich.
Wesentlich mehr meldeten sich bei einer Online-Petition von Campact. Heute Mittag zählt sie beinahe 76.000 Unterschriften. Die Initiatorin geht mit harten Anschuldigungen gegen Rammstein vor:
Doch solange die Vorwürfe nicht geklärt sind, sind Konzerte der Band kein sicherer Ort für Mädchen und Frauen. Jetzt gilt es zu zeigen, dass Berliner*innen mutmaßlichen Tätern #KeineBühne bieten. Machtmissbrauch und patriarchale Strukturen in der Medien- und Kulturbranche sind kein Einzelfall. Wir glauben den Opfern von sexualisierter Gewalt – immer und überall!
Für die Anwälte der Band geht das zu weit. Laut MDR reagierten sie mit einer Abmahnung.
Neue Vorwürfe
Am heutigen Montag werden von einem Investigativ-Team der SZ und des NDR neue Vorwürfe gegen die Band erhoben. Sie datieren aus früheren Jahren und betreffen andere Bandmitglieder.
In den Berichten der Frauen taucht erneut der Vorwurf der Betäubung auf: "Ich habe es geschehen lassen. Ich war wie off, abgetrennt von mir selbst" (Tagesschau). Die Band-Mitglieder "ließen die Vorwürfe über ihre Anwälte zurückweisen".
Gegen vorgängige Vorwürfe der Verwendung von K.-o.-Tropfen verwahrte sich Frontsänger Till Lindemann ganz entschieden. "Diese Vorwürfe sind ausnahmslos unwahr", so seine Anwälte.
Gericht: Verbot von Artikel-Passagen mit Verdacht auf Betäubung mit K.o.-Tropfen/Drogen/Alkohol
Update: Wie das Anwaltsbüro Scherz Bergmann gestern mitteilte, untersagte das Landgericht Hamburg mit einstweiliger Verfügung, dem Spiegel "den Verdacht zu erwecken, Till Lindemann habe Frauen bei Konzerten der Gruppe "Rammstein" mithilfe von K.-o.-Tropfen/Drogen/Alkohol betäubt oder betäuben lassen, um ihm zu ermöglichen, sexuelle Handlungen an den Frauen vornehmen zu können".
Darüber hinaus wurden dem Spiegel nach Angaben des Anwaltbüros zwei falsche Tatsachenbehauptungen untersagt. Insgesamt soll das Verbot des Gerichts 18 "teilweise lange" Passagen des Artikels umfassen.
Zum betreffenden Artikel des Hamburger Nachrichtenmagazins siehe den Telepolis-Artikel vom 11. Juni: Rammstein, Till Lindemann und Deutschland: Von bösen Männern und guten Mädchen.
Erregungen und Sorge
Bis die Ermittlungen der Berliner Staatsanwaltschaft abgeschlossen sind und Beweise für Missbrauch vorliegen, finden die Vorwürfe gegen die Band auf der Ebene von Erregungen, Sorge und Medien-Stress statt.
Angesichts der Vorwürfe einer im Internet prominenten Konzertbesucherin, die im Backstage-Bereich eines Rammstein-Konzerts auf eine Art behandelt wurde, die sie als sehr einschüchternd empfand und die Möglichkeit des Missbrauches nahelegt, ist die Sorge von Eltern, deren Töchter auf ein solches Konzert gehen wollen, verständlich.
Leider kam es bislang in den Medien nicht zu den Offenlegungen von Kennern der Szene, die hinter die Kulissen schauen lassen, wie es der Konzertveranstalter Berthold Seliger vorgeschlagen hat.
Seliger sprach sich kürzlich gegen Verbotsszenarien aus und für Partys, bei denen Menschen "auch mal durchknallen und aus sich herausgehen können" – allerdings auf der Basis einer Backstage-Kultur, die nicht misogyn ist und Missbrauch verhindert (siehe: Rammstein-Debatte: Männerglück und Frauenleid).
Wie das gehen soll, ist noch offen.
"Zwei Welten, zwei Sprachen"
Ein Konzertbericht der Berliner Zeitung bemerkt, dass "zwei Welten und zwei Sprachen" aufeinandertreffen. "Die einen zielen aufs große Ganze, das patriarchale Machtgefälle, Femizide. Die anderen winken ab, verweisen auf die Unschuldsvermutung".
Liegt hier ein weiteres Phänomen der nebeneinander existierenden Parallelerzählungen vor?
Bei den Missbrauchsvorwürfen gegen Lindemann und Rammstein ist es das Ermittlungsverfahren, das rechtliche Klarheit schaffen wird. Auszugehen ist davon, dass damit aber im öffentlichen Gespräch nicht alle Vorwürfe gegen die Band vom Tisch sind. Sie leben in Erzählungen weiter.
Peter Sloterdijk, der die deutsche Öffentlichkeit seit Jahren mit neuen Impulsen aus seiner Denkfabrik versorgt, hatte 2011 von einem Stress-Konzept geschrieben, in dem grob und vereinfachend gesagt, die Medien als Stressoren auftreten, um eine notwendige Unruhe herzustellen, damit die Gesellschaft in der Auseinandersetzung mit Sorgen-Themen kohärent bleibt.
Das Kollektiv, das Sloterdijk dabei vor Augen hatte, ist die Nation. In diesem Kollektiv würde ein stetiger Stressthemenfluss für die "Synchronisierung der Bewusstseine sorgen, um die (…) Bevölkerung in einer sich von Tag zu Tag regenerierenden Sorgen- und Erregungsgemeinschaft zu integrieren".
Wie es aussieht, geht es in eine andere Richtung, nicht nur was das nationale Kollektiv betrifft.
Die Debatte über Rammstein zeigt ein weiteres Mal, dass nicht von einer Erregungsgemeinschaft die Rede sein kann, sondern von mindestens zwei. Und eine Integration ist nicht in Sicht. Schon gar nicht, wenn die Auseinandersetzung kulturkämpferisch gefärbt ist.