Rammstein, Till Lindemann und Deutschland: Von bösen Männern und guten Mädchen
Seite 2: Befreiungsversprechen der Musik und selbstbestimmte Sexualität
- Rammstein, Till Lindemann und Deutschland: Von bösen Männern und guten Mädchen
- Befreiungsversprechen der Musik und selbstbestimmte Sexualität
- Heute sind Groupies Frauen, denen ihre Entscheidungskraft abgesprochen wird
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Pop, Partys und ungehemmte Sexualität waren einmal eng mit dem Befreiungsversprechen der kulturellen Revolte des 20. Jahrhunderts verbunden.
Backstage- und Aftershowpartys waren eine kulturelle Errungenschaft dieser neuen, etwas gleicheren Welt an der Grenze zwischen Kunst und Unterhaltung.
Mehr und mehr kommerzialisiert und statt für Freunde und Freunde der Freunde bald für Sponsoren und Honoratioren gedacht, wurden auch sie Effizienzdenken und Optimierungshandeln unterworfen.
Es braucht nicht einen Till Lindemann, um Assistentinnen, Managern und Personenschützer die Organisation passender Partygäste zu überantworten, was oft genug auch auf potenzielle Sexualpartner hinauslief.
Wer in den 1990ern etwa dem Auflauf vor einem Michael-Jackson-Event beigewohnt hat, oder vor einem Robbie Williams-Konzert, der hat nicht nur die Bodyguards erlebt, die mit Fingerzeig die Auserwählten herauspickten und sagten: "Du, Du und Du kannst mit hochkommen". Man erlebt dort auch die kreischenden Groupies, die vor Hotel riefen: "Michael, ich will ein Kind von Dir." Oder: "Robbie, fick mich!" und dergleichen.
Die Befreiungsversprechen der Popkultur sind von selbstbestimmter, ungehemmter Sexualität nicht zu trennen. Wer zu einer Backstage-Party geht, muss sich darauf verlassen können, dass nichts gegen seinen Willen geschieht.
Aber alle, die das tun, wissen, dass sie nicht zum Kartenspielen hingehen, sondern, um dort mit hartem Alkohol, verschiedensten Dogen und sexuellen Avancen konfrontiert zu sein. Genau darum geht man hin, und genau darum ist man Fan, Groupie, Partygast. Dem Großteil der Beteiligten ist das auch vollkommen klar. Auch den meisten Bewerberinnen für die "Row Zero" bei Rammstein.
Pop- und Rockkultur waren immer Gegenkultur
Die Pop- und Rockkultur war immer auch eine Gegenkultur, eine Gegenwelt. Und Sex, Drugs und Rock'n'Roll war noch nie in einem "gegenseitigen Einverständnis", das einem bürgerlichen Kaufvertrag entspricht. Sondern es bedeutet seit jeher Handeln in der Grauzone.
In dieser Grauzone wirken wie in den vielen anderen gesellschaftlichen Grauzonen noch andere Mächte als nur das Gesetzbuch: Prestige und Ruhm, Spaß und Vergnügen, Exzess und das zeitweilige Eintauchen ins große Andere, in die Gegenwelt zu aller "spießigen" Normalität und den Wonnen der Gewöhnlichkeit sind neben dem nackten Geld die wichtigsten Währungen in diesem Spiel. Mit ihnen kann der Star, diejenigen bezahlen, die bereit sind, sich bezahlen zu lassen.
Ist das alles deswegen schon gut so? Wohl kaum. Aber warum soll es schlecht sein? Was kann "sexuelle Selbstbestimmung" denn eigentlich anderes meinen, als das Recht darauf, auch seine eigenen Fehler zu machen und nicht die der Eltern, Lehrer, Politiker oder andere (Nicht-)Erziehungsberechtigter?
Oder, wie es in einem Augenblick seltener Klarheit der Spiegel jetzt zum "System Rammstein" schreibt:
Auf der anderen Seite: Will man wirklich leben, als wäre man sein eigenes Helikopterelternpaar? In einer Welt der Erwachsenen trifft der oder die Einzelne seine oder ihre Entscheidungen und muss dann mit den Konsequenzen umgehen. Eine solche Entscheidung könnte zum Beispiel sein, sich als junge Frau zu Till Lindemann unter die Rammstein-Bühne zu begeben, wenn dies bewusst und freiwillig geschieht. Denn natürlich gibt es dort nicht nur viel zu verlieren, sondern für manche auch einiges zu gewinnen: Erfahrungen, Selbsterkenntnis, Entgrenzung, Selbstermächtigung. Oder auch nur das, was mal Spaß hieß. Till Lindemann bietet dies an, zumindest empfinden es viele Fans so.
"Lustgewinn ist das einzige Leitmotiv in dieser Welt ohne Tabus ..."
Ebenso die sogenannten "Groupies". Schon in den Sechzigerjahren, als dieser Begriff – vom Magazin Rolling Stone erfunden – aufkam, führte dieses Phänomen nicht zu ungeteiltem Beifall in den Mainstreammedien.
In der Süddeutsche beschrieb eine Autorin 1970 possierlich:
Ein Groupie ist ein Mädchen mit Musik im Blut und viel Herz für Musiker. Es ist Haschisch nicht abgeneigt, ebenso wenig wie einem Liebesabenteuer mit einem Musiker, Hauptsache er hat lange Haare und spielt in einer Beat-Band.
Die Zeit – immer schon ein wenig strenger – tadelte im selben Jahr aus Anlass von Jenny Fabians bald berühmtem Buch Groupie, des allerersten autobiographischen Berichts dieser neuen Spezies:
Lustgewinn ist das einzige Leitmotiv in dieser Welt ohne Tabus, obwohl zwischen Lipp’ und Kelchesrand, zwischen Fellatio und Cunnilingus Betriebsunfälle lauern: eine Rauschgiftrazzia der Polizei, die zu peinlicher Gerichtsverhandlung und Geldstrafen führt, eine Geschlechtskrankheit, die, vielleicht, zu vorübergehender Enthaltsamkeit zwingt, eine Schwangerschaft oder völliger geistiger Zusammenbruch. Wichtig ist es (...) emotionelle Engagements zu vermeiden. Sex ist – bewusst vom Begriff der Liebe losgelöst – auf das Niveau einer kalten oder warmen Mahlzeit reduziert, die man heute mit einem, morgen mit einem anderen Partner einnimmt.
In Fabians Buch sah man nichts als "eine deprimierende Chronik einer ausweglosen Odyssee der Selbstzerstörung". Dabei würde es jetzigen Zeit-Redakteurinnen und -Redakteuren vielleicht gut tun, sich den antiquarisch erhältlichen Band einmal vorzunehmen.
Hier könnte man Facetten weiblicher Freiheit und feministischen Selbstbewusstseins entdecken, die die heutigen, zart besaiteten Redakteursseelen gern verdrängen.
Gerade Groupies betrieben die Ökonomisierung der sexuellen Beziehungen
Noch 2005 konnte in der taz ein Text einer Autorin erscheinen, den man sich heute so erfrischend, selbstbewusst und amoralisch kaum mehr vorstellen kann: Unter dem Titel "Das obskure Subjekt der Begierde schrieb die damals 27-jährige Christina Kretschmer ("wäre gern Elvis’ Groupie gewesen") über das "Erlebnis, mit Stars Sex zu haben", als "ein Abenteuer als lustigen Ausflug in ferne, exotische Gefilde". Es könne nämlich "durchaus reizvoll sein, mit jemandem zu schlafen, der sein Instrument beherrscht".
Schon damals aber erwähnte die Autorin auch die Angst vor Skandalen und machte sich auch sonst keine Illusionen, sondern beschreibt Pop- und Groupiekultur als Ergebnis nicht etwa von Moral-, sondern von Produktionsverhältnissen:
Die großen, die glamourösen Zeiten des Groupies scheinen vorbei zu sein. (...) Eine große, bis heute andauernde Langeweile zog ein in ein Geschäft, das einmal wegen moralischer Gefährdung Jugendlicher verdächtigt worden war. Und mit der Plattenindustrie hat sich auch die Welt des Groupies verändert. ... Die Familientauglichkeit eines Musikers, der eine breite Masse erreichen will, ist elementar geworden. Nicht mehr Exzesse, sondern die Betonung der eigenen Bodenständigkeit sind neuer Chic (...). Ein geradezu besessenes Interesse am Privatleben Prominenter und die umfassende Berichterstattung darüber lassen ihnen kaum noch eine Privatsphäre. (...) Andererseits ist der Lebensstil dieser Frauen extrem unkonventionell. Schließlich: Gerade sie waren es, die eine Ökonomisierung der sexuellen Beziehungen betrieben. Schon in den 60er-Jahren verweigerten sie sich der gängigen Frauenrolle, die für sie vorbestimmt schien: der der braven Hausfrau. Stattdessen betonten die Groupies ihren Willen zum Spaß und zelebrierten ihren hedonistischen und unkonventionellen Lebensstil offensiv in der Öffentlichkeit."
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