Rammstein, Till Lindemann und Deutschland: Von bösen Männern und guten Mädchen
Seite 3: Heute sind Groupies Frauen, denen ihre Entscheidungskraft abgesprochen wird
- Rammstein, Till Lindemann und Deutschland: Von bösen Männern und guten Mädchen
- Befreiungsversprechen der Musik und selbstbestimmte Sexualität
- Heute sind Groupies Frauen, denen ihre Entscheidungskraft abgesprochen wird
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Das alles möchte man heute nicht mehr zulassen. Jedenfalls nicht im Westen, denn selbstverständlich herrschen all' die beschriebenen Verhältnisse in weit ungehemmterer Weise in der ganzen Welt außerhalb Westeuropas und den USA.
Und das neue puritanische Regime der westlichen Wohlstandsgesellschaften ist nicht etwa ein Zeichen ihrer Stärke, sondern Symptom tiefer innerer Schwächung.
Die Selbstverständlichkeit des Handelns und das Selbstbewusstsein der eigenen Lebensform ist dem Westen abhandengekommen. Stattdessen normiert und reguliert man zerknirscht mehr und mehr Lebensbereiche.
Heute sind Groupies Frauen, denen die Entscheidungskraft abgesprochen wird, die von der Gesellschaft zu Opfern erklärt werden und sich selbst dieser sozialen Norm fügen. Eine Anita Pallenberg oder Uschi Obermaier würde es und dürfte es heute nicht mehr geben; sie wären heute NDR-Redakteurinnen.
Die Gesellschaft als Ganze erlebt in der Causa Rammstein ein Paradox: Während in öffentlich-rechtlichen Talkshows über Sadomaso-Praktiken, Drogenerfahrungen, Nahtoderlebnisse und jede mögliche andere Laune des Intimlebens in erstaunlicher Offenheit und Breite berichtet wird, man sich vergnüglich das "Dschungelcamp" oder Splatterhorrorfilme oder YouPorn-Clips anschaut, während Gangsta-Rapper noch ganz andere Sachen singen, als Rammstein je gesungen hat, wird ausgerechnet die erfolgreichste deutsche Band zum Objekt der Empörung.
Wenn Rammstein sagt: "Wir machen eine Party, wenn Du Bock hast, machst Du mit", dann ist das alles deren Sache. Wenn sich Teilnehmer hinterher beschweren über Machtmissbrauch – was soll das auch sein? Oder übergriffiges Verhalten.
Journalistischer Distanzverlust
Es gab auch einmal eine Zeit, da war es die Regel, dass man sich als guter Journalist "nicht mit einer Sache gemein macht - auch nicht mit einer guten Sache (…); dass er überall dabei ist, aber nirgendwo dazu gehört". So das bekannte Selbstverständnis des Tagesthemen-Moderators Hanns-Joachim Friedrichs.
Distanz halten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken, cool bleiben war das Credo der vordigitalen Zunft.
Dem entsprach der berühmte Grundsatz des Spiegel-Gründers Rudolf Augstein: "Sagen, was ist", der im Atrium des Hamburger Verlagsgebäudes an der Wand steht.
Inzwischen scheinen viele Journalisten, nicht nur beim Spiegel, diese Vorstellung der eigenen Arbeit, die auch Gebot zur Neutralität und Unvoreingenommenheit bedeutet, zunehmend vergessen zu wollen.
Stattdessen sind "Haltungsjournalismus" und das Bedienen des eigenen Weltanschauungslagers immer wichtiger: "Sagen, wie wir es gern hätten."
Moderner Journalismus, so schrieb vor ein paar Jahren der Spiegel-Autor Philipp Oehmke, brauche "in diesen Krisenzeiten klare moralische Ansagen". Oehmke ist einer der verantwortlichen Autoren für die Titelgeschichte des Spiegel, die sich in dieser Woche – genaugenommen reichlich spät – viel Mühe gibt, den Vorwürfen gegen Till Lindemann substantiell Neues hinzuzufügen.
Medialer Empörungsbetrieb
Der Empörungsbetrieb wird in besonders "liberalbürgerlichen" Medien auf die Spitze getrieben: Bei Spiegel und Zeit weiß man zwar wenigstens, wer Rammstein ist. Oh, raunt es aus diesen Redakteursstuben, das sind diese Schrecklichen. Sind die nicht auch Nazis, Putin-Versteher und DDR-Nostalgiker?
Ein Dutzend Spiegel-Reporter schrieb jetzt an einem überaus dünnen Aufguss einer Titelgeschichte. Zu Anfang wird ein Text angekündigt, der Dinge verspricht, die er nicht erfüllt:
Der Spiegel hat mit rund zwei Dutzend Personen gesprochen, einige aus dem engeren Arbeitsumfeld von Rammstein. Darunter sind viele Frauen, die von ihren eigenen Erfahrungen mit der Band und vor allem mit Till Lindemann berichten. Manche davon haben ihre Geschichte bereits anderen deutschen Medien erzählt. Einige der Frauen haben eidesstattliche Versicherungen unterzeichnet, das heißt, vor Gericht würden sie sich strafbar machen, wenn sie lügen.
Zitiert werden im Text dann aber doch nur drei junge Frauen. Man muss den Text genau lesen, um zu bemerken, wie zunächst von "rund zwei Dutzend Frauen" und dann plötzlich nur noch von "rund einem Dutzend" die Rede ist, wie zuerst von Düsseldorf erzählt und dann mitten in der Erzählung plötzlich auf München gesprungen wird. Alles immer im Soll-Modus: dies soll passiert sein, jenes soll passiert sein.
"Ist Rock die Ölheizung der Popkultur?"
Dann Spiegel weiter über Lindemann persönlich: "berauscht, getrieben und vielleicht gebrochen". Wo andere "Victim-Blaming" rufen, da unternimmt der Spiegel Künstler-Blaming und verbindet es einmal mehr mit Spiegel-typischem West-Ressentiment gegen den Osten:
Aber für die Leute, die sich in dieser Welt (der Rock-Gegenkultur) bewegten, war der Mauerfall ein fast genauso großer Schock wie für die SED-Offiziellen: Was tun, wenn alles untergegangen ist, wogegen man war? Wenn der Westen übernimmt? Gegenkultur funktioniert ja nur, wenn man etwas hat, wogegen man sein kann. Und dann waren auch noch die Freundinnen weg. Das ist der Gründungsmythos von Rammstein: Sechs Ostmänner, denen das Land abhandengekommen ist und einigen auch die Freundin, machen in einem Proberaum in Ostberlin geilen Krach. Und die erste Zeile, auf die sie sich einigen, ist: 'Ich will ficken'. Die Idee: eine Band als Schocktherapie. Als Rache des Ostens. Gegen die Verweichlichung der neuen westlichen Siegermacht, mit Körperkult, Männlichkeitsgedöns, gerolltem R und raunendem Bezug auf alles, was die amerikanisierten Westler gruselt.
Nach dem Osten wird dann die Rockmusik abgewickelt:
Wenig ist so intim wie die Liebe zu einer Band. Niemand, der seine Frau oder seinen Mann bei einem Konzert kennengelernt hat, möchte diese Erinnerungen entwertet sehen. Aber, schlimmer Verdacht, kann es sein, dass das Mehrgenerationenprojekt Rockmusik dann doch irgendwann an ein Ende kommt? Und könnte es sein, dass die gute alte Zeit möglicherweise so gut doch nicht war? Ist Rock mittlerweile nicht so etwas wie die Ölheizung der Popkultur? Vielleicht gibt es ja Übergangsfristen.
Am Schluss Geraune: "Es gibt bislang nur Indizien, dass die Geschichten stimmen könnten, es gibt immer mehr Aussagen. Das war bei Harvey Weinstein am Anfang allerdings auch so."
Wollte man auf gleichem Niveau antworten, könnte man sagen: Der Text liest sich süffig. Das war bei Claas Relotius am Anfang allerdings auch so.
Der Wohlfühlkapitalismus schlägt zurück
Schließlich: Rammstein selbst. Wer die Band und Till Lindemann einmal für fünf Minuten wirklich als Künstler ernst nimmt, und sich mit seinem Werk beschäftigt, der weiß, dass man nicht einzelne Zitate aus den Songs klauben und für bare Münze nehmen kann.
Eigenwilligkeit, rundum gegen den Zeitgeist, prägt die Band von Anfang an. Geschmacklosigkeit und Tabubruch gehören dazu, aber als Geste, und der ironische Haken ist hier immer schon eingespeist und eingepreist.
Man muss das alles deshalb nicht für gute Kunst halten. Kann man aber. Rammstein war immer schon interessant. Eher interessant als gut. Manchmal aber auch sehr gut.
Warum Rammstein in Deutschland schlechter funktioniert, als in Ländern wie Frankreich, den USA oder auch den ehemaligen Sowjetländern ist auch jenseits des typischen Erfolgsneids leicht zu erklären: Rammstein nimmt Deutschland nicht ernst. Rammstein zeigt Deutschland, wie es wirklich ist, mit seinen Abgründen mit seinen Bosheiten und seinen Albernheiten.
Rammstein konfrontiert uns permanent mit unserer eigenen Geschichte, mit der Gewalt dieser Geschichte, aber auch mit der dunklen schwarzen Romantik und dem Kitsch, allerdings auch mit einer permanenten Brechung dieser Geschichte, einem ironischen Verhältnis zu ihr und das geht in einem humorlosen ernsten Land dann natürlich auch nicht.
"Stachel im Fleisch des deutschen Wohlfühlkapitalismus", hat der Peter Wicke das einst genannt. Jetzt schlägt dieser Wohlfühlkapitalismus zurück.
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