Rammstein, Till Lindemann und Deutschland: Von bösen Männern und guten Mädchen

Engel, verteufelt: Rammstein in London, 2012. Bild: Kreepin Deth, CC BY-SA 4.0

Willkommen im Club: Was in der hysterischen Debatte über Rammstein vergessen wird. Und warum wir uns an Groupies und Partykultur erinnern sollten.

Ich möchte es noch einmal klarstellen. Till hat mich NICHT berührt. Er akzeptierte, dass ich keinen Sex mit ihm haben wollte. Ich habe nie behauptet, er habe mich vergewaltigt. Bitte lest den kompletten Twitter-Thread, bevor ihr irgendwelche Artikel schreibt.

Shelby Lynn/@Shelbys69666, 30.05.2023 (Übersetzung d. A.)

Es gab einmal eine Zeit, da versprachen Partys, Pop und Promiskuität Befreiung. Aber diese Zeiten sind lange vorbei.

Die derzeit geltende Trias lautet: Prüderie, Puritanismus, Paternalismus. Sie betrifft längst nicht nur Partys, sondern macht sich in einer Gesellschaft breit, die sich gern selbst so darstellt, als wolle sie ihren Mitgliedern Freiheit und Selbstbestimmung ermöglichen.

Tatsächlich aber perfektioniert sie täglich ein System aus Bevormundung und Kontrolle, Disziplinierung und Normierung, deren Schmiermittel der Hypermoralismus ist.

Der sogenannte "Fall Rammstein" oder auch "Fall Till Lindemann" und die ihn umgebenden Veröffentlichungen sind das neueste Beispiel für diese Entwicklung.

Eingestelltes Ermittlungsverfahren und keine Anzeigen

Aber der Reihe nach. Zu Rammstein ist eigentlich mit den oben aufgeführten Sätzen von Shelby Lynn schon das Wesentliche gesagt. Die Irin Lynn ist die Frau, deren Post in sozialen Netzwerken nach einem Konzertbesuch in Wilna am 25. Mai überhaupt erst zum Auslöser der Vorwürfe gegen Till Lindemann wurde.

Fünf Tage später relativierte sie diese aber durch die Klarstellung, was alles nicht passiert ist. Folgerichtig wurden die Ermittlungen der Polizei in Vilnius am Samstag eingestellt.

Bis heute gibt es weder Anzeigen gegen Lindemann oder die Band noch den Vorwurf der Vergewaltigung oder der Anwendung körperlicher Gewalt, oder den Verdacht, Minderjährige könnten in ihren Rechten verletzt worden sein.

Im Raum steht allein die Behauptung, Frauen seien möglicherweise durch K.-o.-Tropfen oder andere Drogen sexuell gefügig gemacht worden, oder gegen ihren Willen in einen Zustand versetzt, nachdem sie zeitweise ihr Gedächtnis verloren haben. Diese Anschuldigungen wurden bisher anonym erhoben, und haben nicht zu Anzeigen oder polizeilichen Ermittlungen geführt.

Das interessiert die breite Öffentlichkeit wenig, wenn einer einmal am Pranger steht. Und tatsächlich ist damit noch nichts Abschließendes gesagt. Es kann noch zu Ermittlungen und Verfahren kommen, es können noch neue relevante Tatsachen in die Öffentlichkeit kommen. Aber selbst dann muss für ebendiese Öffentlichkeit das Gebot der Unschuldsvermutung und das Verbot unzulässiger Verdachtsberichterstattung gelten. Beides ist schon jetzt nur noch theoretisch der Fall.

Um es trotzdem unmissverständlich festzustellen: Alles was strafrechtlich relevant ist, ob Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, oder der Gebrauch von K.-o.-Tropfen oder vergleichbaren Substanzen; aber auch massiver psychischer Druck lassen sich durch nichts rechtfertigen und sind kriminell.

Solche Vergehen müssen bestraft werden, wenn man sie nachweisen kann. Wenn es nicht nachweisen kann, hat das Opfer leider Pech gehabt, denn auch die Beweispflicht ist ein hohes Gut des Rechtsstaats, und das ist auch gut so.

Die Hauptvorwürfe gegen Lindemann beziehungsweise Rammstein – ganz klar ist das nicht – sind aber bislang weitgehend keine strafrechtlich relevanten. Es sind bis dato mehrheitlich moralische Vorwürfe und geschmackliche.

Die eigentliche Grauzone heißt Selbstverantwortung

Erwachsene Menschen tun erwachsene Dinge. In einer Zeit, in der man bereits 16-Jährigen das Wahlrecht und den Führerschein geben will, muss man ihnen auch die Fähigkeit zugestehen, ihren Besuch eines Rockkonzerts und der dazugehörigen Aftershow-Party in Chancen und Gefahren realistisch einschätzen zu können. Ebenso muss man ihnen auch die Souveränität über ihr eigenes Sexualleben zugestehen.

Stattdessen spricht ihnen die Gesellschaft in genau diesen Fragen die Selbststimmung ab und erklärt sie zu Menschen, die vor möglichen Gefahren besonders zu schützen seien. Vor den Gefahren des Straßenverkehrs oder der falschen Wahlentscheidung müssen sie offenbar nicht geschützt werden.

Aber auch der jetzt oft zu hörende Topos des "Gefügigmachens" ist problematischer, als er zunächst daherkommt: Denn wo geht dieses eigentlich los? Auch hier finden wir vor allem eine Grauzone. Dass man jemanden gefügig macht, wenn man ihm ohne sein Wissen K.-o.-Tropfen gibt, das ist selbstverständlich.

Ob das auch noch passiert, wenn man ihm mit seinem vollen Wissen mit Party-Drogen versorgt, dann ist das schon eher hinterfragenswert. Aber was ist, wenn man jemanden fünf Gin Tonics gibt, und er oder sie vorher nur einen Salat gegessen hat? Wahrscheinlich macht man diese Person dann auch gefügig. Trotzdem ist dies nicht illegal, sondern gehört zum Erwachsenenverhalten und zum Bereich der Selbstverantwortung. Die eigentliche Grauzone also heißt Selbstverantwortung.

Was genau soll das Problem sein, wenn junge Frauen mit alten Männern ins Bett gehen und umgekehrt, solange es freiwillig geschieht? Und geht es die Öffentlichkeit etwas an, falls – bislang unbewiesen – ein Rockstar seine Assistentin einsetzt, um potenzielle Sexpartnerinnen auf eine Party einzuladen?

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