Ratzingers Angst vor der Kirche der Armen
Seite 3: Exkurs: Der kirchliche Antikommunismus als Projektion?
- Ratzingers Angst vor der Kirche der Armen
- „Auch der Folterer ist ein Mörder“
- Exkurs: Der kirchliche Antikommunismus als Projektion?
- Die USA sahen im salvadorianischen Militär eine „Stütze der Menschenrechte“
- „San Romero de América“ und die Kirche von oben
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Der kirchliche Antikommunismus hat eine lange Geschichte. Wo immer sich katholische Kirchenleitungen im Stillhalten oder gar Wohlwollen1 gegenüber faschistischen Regimes übten, war der Antikommunismus bis in die jüngste Vergangenheit hinein stets die leitende Hintergrundideologie. Das macht die pauschalen Marxismus-Vorwürfe gegenüber der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, die ja vornehmlich im Raum von Militärdiktaturen anzutreffen war, besonders suspekt.
Angesichts des Umstandes, dass sich renommierte kath. Sozialethiker wie Oswald von Nell Breuning (1890-1991) positiv auf Karl Marx bezogen haben, verwundert es, wie undifferenziert Joseph Ratzinger noch immer vom „Marxismus“ als einem einheitlichen Gebilde spricht. In seiner Enzyklika „Deus est Caritas“ beschreibt er z.B. eine zynische Variante der Verelendungstheorie, der heute auf dem ganzen Globus höchstens eine Handvoll Sektierer anhängen. Es stellt sich auch die Frage, ob die militanten katholischen Antikommunisten nicht vielleicht auch von Projektionen geleitet werden. Als Weltanschauungen mussten Christentum und Marxismus gleichermaßen ihren Namen hergeben für viele Verbrechen in der Geschichte. Während der Vatikan, verunsichert durch die Moderne, schon 1870 ein unfehlbares Lehramt des Papstes erfand, suchte der Marxismus-Leninismus sein Heil in einer Partei, „die immer Recht hat“. Ein Verständnis für demokratische Ideale ist dem römischen Katholizismus und dem „orthodoxen“ Marxismus-Leninismus gleichermaßen fremd geblieben. Freiheitliches Denken hat es im Bannkreis dieser beiden stets schwer gehabt.
Rom hätte nun bei Bedarf zu Recht verlangen können, dass der befreiungstheologische Kampf für die sozialen Menschenrechte stets mit einem Einsatz für die in der bürgerlichen Revolution errungenen Freiheitsrechte des Einzelnen einhergehen muss. Damit wäre man bei den Befreiungstheologen nicht auf taube Ohren gestoßen, denn diese beklagten lediglich, dass unter dem Vorwand der bürgerlichen Freiheit eine Ökonomie der Verelendung gerechtfertigt wird und dass für Verhungernde abstrakte Freiheitsrechte eine leere Worthülse bleiben. Indessen legte der Vatikan dem Brasilianer Leonardo Boff ein Redeverbot auf, weil dieser zuviel Freiheit einforderte und die zentralistische Machtausübung der römischen Kirchenleitung als mit dem Evangelium nicht vereinbar kritisierte.
Unter Wojtyla und Ratzinger ist „Demokratie“ in der katholischen Kirche wieder ein Fremdwort geworden. Seit Beginn der von diesen beiden beherrschten Ära trauten und trauen sich auch westliche liberale Theologen mit Lehrstuhl immer seltener, das niederzuschreiben, was sie denken, glauben und für wahr erachten. Sogar das Werk von Karl Rahner, des bekanntesten deutschsprachigen Dogmatikers der Neuzeit, geriet unter Häresieverdacht. Ein tiefenpsychologisch verstehender Theologe wie Eugen Drewermann wurde mit einem bischöflichen Inquisitor vor Ort konfrontiert, der seine Werke nicht einmal intellektuell verstehen konnte. Der Verfasser dieses Beitrages hat als Theologiestudent ab 1982 den Klimawandel an katholischen Fakultäten in Bonn, Tübingen und Paderborn schrittweise miterlebt.