Raum versus Zeit
Geschwindigkeit als Rechtfertigung jeder Mühsal
Vor Jahren träumte ich davon, eine Pension an der Küste zu betreiben. Keine Pension mit einer Landlady, die überall ihre Nase hineinsteckt, und mit überall verteilten Hinweisen, beispielsweise das Licht zu löschen, sondern eine miniaturisierte Hightech-Pension mit Selbstversorgung, schnellem Durchlauf und einer Wohnklasse, in der zwei mal so viele Menschen in der Hälfte des Raums untergebracht werden können.
Hier hätte es keine Küche gegeben, sondern nur drei tiefgefrorene Mahlzeiten täglich, die in die Mikrowelle gestellt und durch einen Knopfdruck ausgegeben werden. Es hätte auch keinen Raum für Wäsche gegeben, sondern nur eine Verbrennungsanlage für Wegwerfwäsche aus Papier, die an den Betten ähnlich wie ein Behälter mit Papiertaschentüchern vorrätig gewesen wäre. Vorgesehen waren noch weitere fordistische und tayloristische Einzelheiten wie die vorhergehenden, aber Sie haben die Idee bestimmt schon verstanden. Es wäre eine Corbusier-Maschine für die Lagerung von Menschen geworden.
Das Problem mit solch einer Orwellschen Vision lag, wie ich später erkannte, darin, dass der Aufenthalt in dieser Pension so gewesen wäre, als würde man in einem gekidnappten Jumbo, der am Rande einer Flugbahn parkt, während langwieriger Verhandlungen gefangen sein. Ziemlich schnell hätten die Gäste herausgefunden, dass die Zeit in einem umgekehrten Verhältnis zum Raum steht, wie dies das Schicksal der Concorde im letzten Jahr bewiesen hat.
Als der Absturz im Juli vor einem Jahr dazu führte, dass die ganze Concorde-Flotte am Boden bleiben musste, betraf dies auch ein Flugzeug am JFK-Flugplatz. Es musste dort drei Monate bleiben, bis die Air France die Erlaubnis erhielt, es zurückfliegen zu dürfen. Die Vorstellung von diesem einsamen Flug ohne Passagiere oder Personal erhellt die ganze Raum-Zeit-Transaktion. Die Crew, die auf die schmale Röhre des Flugzeugrumpfes zurück geschaut hat, muss das als verwirrend erlebt haben. Es muss ihnen möglich gewesen sein, sich diesen dreieinhalb Stunden lang mit hundert Menschen vollgestopft vorstellen zu können. Die Menschen nahmen sich gutes Essen und Drinks von kleinen silbernen Tabletts, die ihnen von den Stewardessen gereicht werden. Das Kabinenpersonal musste sich niederkauern, um die Passagiere in einem solchen winzigen Raum bedienen zu können. Noch schlimmer ist, dass die Passagiere der Concorde dort nicht nur aßen und tranken, sondern auch, festgeschnallt an ihrem winzigen Platz, starben. Aus dieser Perspektive verliert die Kabine der Concorde ihren Eindruck eines luxuriösen Aufenthaltraumes und wird zu dem, was sie wirklich ist: die klimatisierte Version eines U-Bahnzuges in London im August, bei der die Geschwindigkeit alle Mühsal rechtfertigt und jedes objektive Urteil zurückdrängt.
Der Raum in IC-Zügen ist großzüger als in der Concorde, allerdings nicht für jeden. Die Küche im Speisewagen, der beim Hatfield-Unglück am stärksten beschädigt wurde, ist ein enger Gang, der normalerweise den Leiter, zwei wartenden Kellnern und einem Manager beherbergen muss. Am Gang entlang befinden sich elektrische Heizplatten, Grills, Boiler mit kochendem Wasser und mikroskopisch kleine Schneidebretter mit den an ihnen angebrachten Messern. In diesem Raum aneinander vorbei zu kommen, ist nahezu unmöglich, ohne etwas umzuwerfen, zumal bei einer Geschwindigkeit von 150 Stundenkilometern.
Katastrophen erhellen solche Bedingungen, allerdings nur kurz, da Reisen für gewöhnlich eine persönliche Erfahrung sind und Unfälle sich nicht oft ereignen, auch wenn sie manchmal schnell nacheinander zu geschehen scheinen. Noch wichtiger ist, dass Katastrophen erhellen, wie das große Zeitalter der Mobilität unbarmherzig den Raum gegen die Geschwindigkeit eingetauscht hat.
Vor hundert Jahren, am Beginn des 20. Jahrhunderts, hat der Kommandant des deutschen Passagierschiffs über eine Suite von neun Räumen verfügt, während die reichsten Passagiere sogar noch größere und luxuriösere Unterkünfte besaßen. Noch in den 30er Jahren waren die den Passagieren auf den großen Ozeandampfern und den Luftschiffen Graf Zeppelin und Hindenburg angebotenen Unterkünfte gegenüber den heutigen Maßstäben kolossal. Die Tatsache, dass die Hindenburg ihre Ende in einem Concorde-ähnlichen Absturz fand, der oft als das Ende der Luftschifffahrt erwähnt wird, übersieht den gleichermaßen wichtigen Vorzug der gegen Null gehenden Geschwindigkeit. Zwei Drittel der Passagiere und der Crew der Hindenburg überlebten das Lakehurst-Feuer, ein Verhältnis, das viele der Flugzeugabstürze heute nicht erreichen.