Realitätsschock bei den Grünen: Zerfleischt die Partei sich selbst?

Sind die Grünen nur noch Fähchen im Wind? Bild: penofoto/ Shutterstock.com

Die Grünen steuern auf einen turbulenten Parteitag zu. Interne Konflikte brechen offen aus. Interne Dokumente lassen schwere Konflikte erahnen.

Einen Monat vor dem Bundesparteitag der Grünen im November ist der Konflikt zwischen Führung und Basis offen ausgebrochen. Mehrere Anträge zeigen das Misstrauen der einfachen Mitglieder gegenüber der Parteispitze und der Politik von Robert Habeck und Annalena Baerbock.

Statt einer Krönung für Habeck könnte der Parteitag daher zur großen Abrechnung werden. Wie Telepolis aus internen Quellen erfuhr, streiten sich Basismitglieder und Organisatoren bereits über den Ablauf der Veranstaltung.

In etwa einem Monat werden sich rund 800 Delegierte in Wiesbaden treffen. Doch schon jetzt toben bei den Grünen die ersten inhaltlichen, strategischen und personellen Auseinandersetzungen. Die Anträge und Änderungsanträge der Delegierten zeichnen das Bild einer Partei, an deren Basis es heftig brodelt.

Gegensätzliche Anträge zur Migrationspolitik

Inhaltlich ist vor allem in der Migrationspolitik Streit zu erwarten. Bei der Delegiertenkonferenz vor einem Jahr konnten die beiden Grünen-Minister Robert Habeck und Annalena Baerbock gerade noch verhindern, dass der Parteitag Verschärfungen des Asylrechts blockierte.

Der Streit – zwischen Regierungspolitikern und Basis, aber auch zwischen Realos und Linken – war damit nicht beendet.

In den Anträgen für die Delegiertenkonferenz 2024 fordert ein Antrag etwa die Einschränkung des Familiennachzugs, die Abschiebung von Straftätern nach Syrien und mehr Grenzkontrollen. Damit würde die grüne Linie in der Migrationspolitik deutlich nach rechts rücken.

Dem gegenüber steht ein Antrag, der im Wesentlichen ein "Weiter so" will. Der Schwerpunkt der Forderungen liegt auf der Bekämpfung von Fluchtursachen und einer besseren Integration. Unterstützt wird das unter anderem vom Parteilinken Erik Marquardt, der für die Grünen im Europaparlament sitzt und als Seenotretter aktiv war.

Kompetenzteam statt Kanzlerkandidat Habeck

Zwei fast wortgleiche Anträge fordern für den kommenden Bundestagswahlkampf ein Kompetenzteam - statt eines Kanzlerkandidaten. Beide Argumente sind ein Misstrauensvotum gegen Habeck: Zum einen seien die Erfolgsaussichten einer Kanzlerkandidatur angesichts der aktuellen Umfragewerte "absolut unrealistisch". Zum anderen sei "der Kurs der bürgerlichen Mitte gescheitert" – ein Kurs, für den Habeck wie kein anderer in der Partei stehe.

Insofern dürfte es auch spannend werden, mit welchem Ergebnis Habecks Vertraute Franziska Brantner zur neuen Parteichefin gewählt wird. Ihre Vorgänger Ricarda Lang und Omid Nouripour wurden 2022 mit 75 bzw. 82,5 Prozent der Stimmen ins Amt gehievt. Ohne (ernstzunehmende) Gegenkandidatin wäre ein Ergebnis unter diesem Wert ein erster Warnschuss.

Eilantrag zur Tagesordnung

Telepolis liegt nun ein Eilantrag vor, den mehrere Delegierte beim parteiinternen Bundesschiedsgericht eingereicht haben. Wie aus dem Dokument, das unserer Redaktion vorliegt, hervorgeht, fordern die Antragsteller eine Änderung der Tagesordnung und des Abstimmungsverfahrens über Anträge.

Streit um gestrichene Tagesordnungspunkte

Der Streit entzündete sich an einer kurzfristigen Änderung der Tagesordnung durch den Bundesvorstand der Partei. Ursprünglich war für den Freitagabend des Parteitags der Tagesordnungspunkt "Aufbruch für das Land - Für ein Land, das einfach funktioniert" vorgesehen. Die Antragsteller hatten dazu fristgerecht mehrere Sachanträge eingereicht.

Am 2. Oktober ersetzte der Bundesvorstand diesen Tagesordnungspunkt jedoch kommentarlos durch "Aktuelle Lage". Die bereits eingereichten Anträge wurden daraufhin dem Tagesordnungspunkt "Verschiedenes" zugeordnet. Dort unterliegen die Anträge jedoch einem sogenannten "Ranking-Verfahren", bei dem nur die zehn Anträge mit den meisten Stimmen überhaupt behandelt werden.

Antragsteller sehen Rechte verletzt

Die Antragsteller sehen sich dadurch in ihren Rechten verletzt. Sie argumentieren, dass die zum ursprünglichen Tagesordnungspunkt eingereichten Anträge auch ohne Ranking behandelt werden müssten, da sie nicht willkürlich verschoben werden dürften. Zudem sei das Reihungsverfahren selbst fehlerhaft, da Anträge teilweise willkürlich zusammengefasst ("geclustert") worden seien, obwohl inhaltlich widersprüchliche Anträge einzeln hätten behandelt werden müssen.

Ein Parteisprecher wies die Vorwürfe auf Anfrage zurück. Die inhaltliche Zuordnung von Anträgen liege satzungsgemäß in der Kompetenz der Antragskommission als "vermittelndes Organ". Eine Zustimmung der Antragsteller sei nicht erforderlich. Der Wegfall eines Tagesordnungspunktes sei ein "sachlicher Grund" für die Zurückstellung von Anträgen.

Antragsteller beantragen Abstimmung ohne Reihung

Die Antragsteller beantragen nun, über die vom ursprünglichen Tagesordnungspunkt verschobenen Anträge ohne Reihung direkt abzustimmen. Außerdem sollen die unter "Verschiedenes" verbliebenen Anträge vollständig und in der Reihenfolge ihres Eingangs behandelt werden – notfalls durch Unterbrechung und Wiederaufnahme des Parteitags.

Ob das Bundesschiedsgericht noch vor Beginn des Parteitags am Freitag über den Eilantrag entscheiden wird, war zunächst unklar. Die Antragsteller halten eine Eilentscheidung "wegen der Eilbedürftigkeit der Entscheidung zur Wahrung unserer Rechte" für geboten.