Reality VR
James Cameron: Strange Days
Neurotechnologie fasziniert derzeit die Menschen. Heute geht es um die Eroberung des Gehirns und dessen direkte Verschaltung mit dem Computer. Auch das im Rowohlt-Verlag veröffentlichte Drehbuch von James Cameron, das dem Film Strange Days (Regie: Kathryn Bigelow) zugrundeliegt, basiert auf einer Verschmelzung des EEG mit der VR-Technik, um die Erlebnisse eines Menschen direkt auf einen anderen zu übertragen. Die Idee ist faszinierend, aber sie wird durch die von Stereotypen wimmelnde Geschichte verschenkt.
Die Phantasie ist natürlich immer einen Schritt voraus, um die Zukunft vorwegzunehmen und sich darauf einzustellen. Derzeit schaut sie nicht nur gebannt auf die Jahrtausendwende und die Auflösungserscheinungen der Industriegesellschaft, sondern auch auf den Übertritt ins postbiologische Zeitalter, auf die Verwandlung der Menschen in Cyborgs und auf neue Schnittstellen:www.hotwired.com/wired/1.4/features/desire.to.be.wired.html der Computersysteme mit dem Körper.
Nur Science-Fiction ist das bereits nicht mehr. Überall auf der Welt forschen Wissenschaftler derzeit über Möglichkeiten, wie sich eine dauerhafte Kopplung des Gehirns mit dem Computer realisieren läßt.
Es geht zunächst um die Ersetzung von geschädigten kognitive Funktionen, um Neurochips wie Hör- oder Sehprothesen oder um die Abnahme und Interpretation von Hirnwellen. Damit lassen sich die Aktivität bestimmter Hirnareale bei bestimmten Tätigkeiten analysieren und visualisieren. Wenn sie hinreichend genau differenziert und interpretiert werden, dann lassen sich allein durch die Auslösung bestimmter Hirnwellen, die man durch Feedback-Verfahren erlernen kann, auch Befehle an den Computer geben.
Man muß es einfach erlebt haben. Darauf kommt es an im Leben. Dabeisein ist alles. Genau darum geht's. Man ist dabei. Man ist selbst aktiv, man sieht, hört ... fühlt.:James Cameron
Bislang kann man mit seinen Hirnwellen nur schlecht und recht einen Cursor über einen Bildschirm steuern oder es lassen sich Aktivitätszustände des Gehirns oder bestimmter Areale aufzeichnen. Gleichwohl ist die Schnittstelle Gehirn-Computer eine der zentralen Herausforderungen der Computertechnologie. Marvin Minsky ist schon lange deren Prophet. Und selbst wenn alles nur ein Fake war, so hatte etwa auch die apokalyptisch gestimmte AUM-Sekte mit der Faszination an dieser Technologie gespielt.
In der ersten Hälfte des Jahres 1995 schien Japan in eine chaotische Hölle einzutauchen. Nach dem Erdbeben im Januar in Kobe wurde im März ein alptraumartiger Anschlag auf die U-Bahn Tokyo von einer religiösen Sekte, der Aum Supreme Truth, ausgeführt. Japan, in dem die rigide Tradition konfuzianischer Moral Schritt für Schritt zusammenbricht, scheint in eine dunkle Welt abzusinken.
Der Fall entzog sich jedem Verständnis und schockierte wegen seiner bizarren Umstände die Nation. Neben dem Massaker und seinen Details überraschte die von der Sekte praktizierte Gehirnwäsche die Menschen. Normalerweise ist die Gehirnwäsche ein Werkzeug ideologischer Erziehung, um die Überzeugungen zu steuern. Die Aum-Gruppe setzte verschiedene Methoden ein, nicht nur geistige und spirituelle, sondern auch medizinische, beispielsweise Drogen, mit denen sich der Geist beeinflussen läßt. Was die Menschen jedoch vor allem in Erstaunen versetzte, war der Gebrauch eines mit Elektroden versehenen, am Kopf angebrachten Geräts, das elektrische Wellen auf die Köpfe der Benutzer übertrug, denen erzählt wurde, daß diese Wellen die Gehirnwellen ihres Gurus weiterleiten. Im Aussehen gleichen diese Geräte den Detektoren für Gehirnwellen, die man für medizinische Zwecke wie beispielsweise für Elektroencephalogramme benutzt, und auch dem Interface zur Steuerung von Computern, die meine Künstlergruppe, das DTI (Digital Therapy Institute), benutzt. Unser am Kopf angebrachtes Gerät kann sowohl Hirnwellen registrieren als auch die Daten von Hirnwellen übertragen.
Alte Menschen können, ganz allgemein gesagt, nicht verstehen, warum die Aum solche Geräte verwendet, die für die religiöse Praxis derart ungewöhnlich sind. Für viele junge Menschen, die wissen, daß es Hirnwellen gibt, und die verstehen, wie diese den Zustand des Gehirns widerspiegeln, ist das aber ganz natürlich. Die meisten Mitglieder der Sekte sind zwischen 20 und 30 Jahre alt. Für sie werden Hirnwellen zu einem Indikator ihrer Erfüllung der Sektenlehren, auch wenn das Erreichen der spirituellen Höhe des Gurus mittels dieser Geräte ein Mythos ist, der von den Sektenführern geschaffen wurde. In Wirklichkeit wird das Gerät als Instrument zum Sammeln von Geld eingesetzt. Manche Quellen sagen, daß es 10 Millionen Yen kostet, das Gerät zu kaufen, und eine Million, um es für ein Jahr zu mieten.
Wenn unsere Gehirnwellen und die Wellen des Computers klar identifiziert werden könnten und wenn beide eine bestimmte Kompatibilität miteinander aufweisen sollten, dann würde das Verhältnis von Mensch und Maschine eine neue Stufe erreicht haben. Wir könnten dann Daten mit Maschinen in neuartigen Weisen austauschen, die von den gegenwärtig geläufigen (dem Tippen auf Tastaturen, dem Anklicken mit der Maus etc.) völlig verschieden wären. Durch Netzwerke wie einer künftigen Internetversion könnten wir überdies unsere Gedächtnisinhalte an einen anderen Ort senden oder das menschliche Gedächtnis direkt auf irgendein Speichersystem übertragen. Wir könnten, anders gesagt, die Daten unseres eigenen Gedächtnisses nach Belieben uploaden und downloaden. Technologische Entwicklungen machen stets das bislang Geheimnisvolle wirklich. Mit dem Fernsehen erwarben die Menschen so die Möglichkeit der Telepräsenz. Früher oder später werden wir über die Möglichkeit der Telepathie verfügen und Synchronizität wird so alltäglich wie eine Wettervorhersage für ein lokales Gebiet werden.
Haben Sie nicht Lust, mal richtig die Sau rauszulassen? Alles das, wovon Sie bisher nur geträumt haben ... wie's wohl sein mag, in der Haut eines anderen zu stecken, und sei's nur für zwanzig Minuten? In der Haut eines Typen, der mit der Magnum in der Hand den Schnapsladen ausräumt, das Adrenalin in seinen Adern zu spüren, den Nervenkitzel, die wahnsinnige Angst - zu fühlen, wie es einem heiß und kalt den Rücken runterläuft. Oder in der Hut des Typen mit der heißen Philippina als Freundin, zwanzig Minuten lang ... die richtigen zwanzig Minuten, versteht sich.:James Cameron
Ein neuer Einfall ist es also bestimmt nicht, den James Cameron, der Drehbuchautor von "Terminator", ins Zentrum seines neuen, von Kathryn Bigelow verfilmten Buchs "Strange Days" stellte, weswegen er in seinem Vorwort vielleicht nachdrücklich darauf hinweisen mußte, daß er ihn schon Mitte der 80er Jahre hatte. Aber sei's drum: die Verbindung der VR- mit der Neurotechnologie wird von ihm gleichwohl bis ins Extrem durchgespielt. Den Charme des Buches macht wohl auch aus, daß seine Handlung nicht irgendwann spielt, sondern in naher Zukunft. Genauer gesagt, sie beginnt am 30.12.1999, kurz vor Ende des Jahrtausends, in Los Angeles, der Modellstadt der Zukunft, deren Ordnung auseinanderfällt, in der Gewalt, ein Bürgerkrieg von jedem gegen jeden herrscht, fast jeder jeden verrät und die Branche der Sicherheitsdienste in voller Blüte steht. Wer es kann, verbarrikadiert sich in seinen Häusern und Wohnvierteln, während eine neue High-Tech-Droge, natürlich ursprünglich aus dem James-Bond-Arsenal der Geheimdienste stammend und wie einst VR nun auch für Unterhaltungszwecke vermarktet, für die notwendige Stimulans im Hotel am Abgrund sorgt.
Während Neal Stephenson mit seinem "Snow Crash" eher über die Verbindung der virtuellen Parallelwelt des Metaversums mit der realen, gleichfalls in seinen Strukturen zerfallenden Welt schreibt, ist die Parallelwelt, mit der der Held von Cameron handelt, eine als Montage der Attraktionen verdichtete Verdoppelung der wirklichen Welt. Mit einem SQUID (Supercomputing QUantum Interference Device) ist es möglich, die Erlebnisse einer Person mit ihrer individuellen Wahrnehmung und ihren Emotionen detailgetreu aufzunehmen und diese "kortikalen Mitschnitte" dann wieder in das Gehirn eines anderen Menschen einzuspeisen, der sie nun als die seinen erlebt. Störungen aus der realen Umwelt können das Eintauchen in die Erlebniswelt eines anderen natürlich stören. Der derart in die Virtuelle Realität einziehende Realismus ist nicht nur ein Ersatz für fehlende Erlebnisse, sondern er unterliegt auch dem medienimmanenten Zwang zur Steigerung der Sensationen, in die man mitgerissen und hineingezogen wird. Erfahrungen der Gewalt, der sexuellen Enthemmung, des Todes sind die Renner der Reality-VR, die man durch die Wiedergabe der Aufzeichnungen eines beteiligten Zeugen nacherlebt.
Iris sieht sich selbst mit den Augen des Trägers ... ihre aufgerissenen Augen, ihre bleichen Lippen, ihr verheultes Gesicht. Sie ist ihm hilflos ausgeliefert, fühlt dasselbe wie er.:James Cameron
Durch die Aufzeichnung der Ermordung eines bekannten schwarzen Rapsängers durch Polizisten - Rodney King läßt grüßen - kommt die reichlich blutrünstige und ziemlich banale Geschichte in Gang. Der heruntergekommene, ehemalige Polizist und High-Tech-Drogendealer Lenny wird allmählich zum strahlenden Helden, der zusammen mit einer Freundin und der sich parallel mit ihr entwickelnden kitschigen Romanze das Verbrechen aufdeckt und die Bösen jagt.
Bei Anbruch des Jahres 2000 gibt es natürlich ein Happy End, nachdem die Verwendung des SQUID einen Höhepunkt erreicht hat. Die Zeugin des Mordes wird nämlich schließlich vom Bösen, der seine Tat mit einem SQUID aufzeichnet, überfallen. Nachdem er sie in seiner Gewalt hat, zieht er ihr ebenfalls eine mit seinem SQUID verbundene Sensorkappe über, so daß sie ihre Vergewaltigung und anschließende Ermordung gleichzeitig mit ihrer Demütigung und Angst aus dessen Perspektive, aus seiner Lust und seinem Orgasmus heraus erlebt. Und die Aufzeichnung dieser Tat wird natürlich wieder von jedem aus der Ich-Perspektive erfahren, der zum virtuellen Vergewaltiger und Mörder wird. Eine monströse Szene, die das Prinzip der Reproduktion genial ausspielt, aber in der oberflächlichen, nur aus Stereotypen bestehenden Geschichte und ihrem seltsamen Gemisch aus erhobenem Zeigefinger gegenüber den verderblichen, in die Realität umschlagenden Konsequenzen einer solchen Technik und der Faszination an ihr verschenkt wird.