Reallohnverluste wie nie zuvor in Deutschland

"Gewinninflation" und Fehler der Ampel-Regierung: Nicht nur Energiekonzerne, immer mehr Branchen nutzen Preissteigerungen, um mit der Inflation Kasse zu machen.

Auch in Deutschland schrumpft die Kaufkraft der Bevölkerung stark. Eine vorläufige Jahresbilanz des Tarifarchivs des Wirtschafts‑ und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans‑Böckler‑Stiftung geht aktuell davon aus, dass wir es mit einem historisch hohen Reallohnverlust zu tun haben.

Bei tarifvertraglich vereinbarten Löhnen wird 2022 voraussichtlich ein Minus von 4,7 Prozent zu verzeichnen sein, schreibt das WSI. Nach Berechnungen des Instituts sind die Tariflöhne durchschnittlich nur um 2,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Die Inflation gibt das WSJ dabei sogar noch optimistisch mit lediglich 7,8 Prozent bis zum Jahresende an.

Ein politischer Wert

Man könnte das auch schönfärberisch nennen, da man in der Stiftung offensichtlich mit den Angaben der Statistikbehörde Destatis gearbeitet hat. Bekanntlich aber nutzt Destatis den besonders stark aufgehübschten "Verbraucherpreisindex" (VPI). Doch selbst nach dem VPI wurde im November gerade eine offizielle Inflationsrate von 10 Prozent bestätigt. Wie wir hier schon mehrfach diskutiert haben, ist die Inflationsrate vor allem ein politischer Wert.

Das zeigt sich schon daran, dass die offizielle deutsche Teuerungsrate nach dem "Harmonisierten Verbraucherpreisindex" (HVPI), den die europäischen Statistiker von Eurostat benutzen, für Deutschland im November eine Inflationsrate von 11,3 Prozent ermittelt wurde.

Dabei kritisiert sogar der ehemalige Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Thomas Mayer, dass auch für den Euroraum immer mehr Teile aus der Ermittlung der Teuerungsrate herausgenommen worden seien, um die Inflationsrate geringer erscheinen zu lassen.

Auch das hatte dazu geführt, dass die Europäische Zentralbank (EZB) das Problem noch länger mit absurden Prognosen verschleppen konnte. Die einfachen Menschen zahlen nun einen hohen Preis dafür.

Wir haben es also längst mit einem noch deutlich höheren Kaufkraftverlust zu tun. Aber das wird zum Teil von dem gewerkschaftsnahen Institut verschleiert, da die Gewerkschaften mit ihren eher zaghaften Tarifabschlüssen sonst noch schlechter dastehen würden. Der Leiter des WSI-Tarifarchivs führt auch deshalb zur Ehrenrettung der Gewerkschaften an:

"Einerseits haben 2022 aufgrund langfristig wirksamer Tarifverträge in vielen Branchen gar keine Tarifverhandlungen stattgefunden. Andererseits werden aktuell vereinbarte, deutlich stärkere, Tariferhöhungen und Inflationsprämien oft erst ab 2023 wirksam", sagt Thorsten Schulten. Trotz allem muss er zu dem Schluss kommen:

Vor diesem Hintergrund kommt es in diesem Jahr zu einem in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bislang einzigartigen Reallohnverlust.

Thorsten Schulten

Wen es besonders trifft

Für viele Menschen, die aber in Branchen arbeiten, in denen es nicht einmal Tarifverträge gibt, oder auch für viele Selbstständige, ist der Reallohnverlust sogar noch deutlich höher, da es kaum oder gar keine Anhebungen gab. Auch sozial besonders schwache Menschen haben noch deutlich heftigere Kaufkraftverluste zu erleiden.

Die Hartz-IV-Erhöhung betrug bekanntlich sage und schreibe 0,67 Prozent. Durch die Umbenennung zum Bürgergeld wird zwar der Regelsatz nun um 50 Euro auf 502 Euro erhöht. Das liegt im Bereich der offiziellen Inflationsrate von 10 Prozent, aber macht nicht einmal bisherige Verluste wett.

Der reale Kaufkraftverlust ist für Menschen, die mit dem Existenzminimum leben, besonders hoch. Denn umso niedriger das Einkommen ausfällt, desto höher ist der Anteil, der für Energie und Lebensmittel ausgegeben werden muss. Das sind die Posten, die sich mit 38,7 Prozent und 21,1 Prozent aber besonders verteuert haben.

Die bisher bekannten Zahlen zeigen, dass die optimistischen Prognosen, wie sie vom Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) aufgestellt wurden, schon jetzt Makulatur sind. Das IfW hatte erwartet, dass "die Kaufkraft der privaten Haushalte im kommenden Jahr mit 4,1 Prozent so stark einbrechen wird, wie noch nie im wiedervereinigten Deutschland".

Man darf davon ausgehen, dass dieser prognostizierte Wert für das kommende Jahr schon 2022 überschritten wird. Ob es dann 2023 einen neuen Rekord geben wird, hängt davon ab, ob die Inflationsbekämpfung, zu der die EZB letztlich gezwungen wurde, tatsächlich wirkt und ob die Gewerkschaften endlich der Inflation angemessene Tarifabschlüsse durchsetzen.

Sonst ist mit einer starken Stagflation wie in Großbritannien zu rechnen. Eine schrumpfende Kaufkraft wie im Königreich treibt natürlich zusätzlich Rezessionstendenzen an, was bei hoher Inflation besonders dramatisch ist.

Ursachen der hohen Preise

Viel hängt natürlich von politischen Entscheidungen ab, die bisher aber durch Abwesenheit glänzen, insbesondere bei der Ampel-Koalition. So müsste eigentlich endlich wirksam gegen Spekulationsgewinne sogenannte "windfall profits" (Marktlagenprofite) vorgegangen werden, die auch "vom Himmel fallende Gewinne" genannt werden.

Denn die treiben die Inflation massiv an. Telepolis hatte zudem schon aufgezeigt, dass sich die hohen Energiepreise, wie auch die zum Beispiel die Treibstoffpreise, nicht mit hohen Ölpreisen begründet werden können.

Zu keinem Zeitpunkt hat sich der Ölpreis 2022 dem Allzeitrekord von fast 150 Dollar pro Barrel auch nur genähert. Im Jahr 2008 kostete das Barrel Öl fast so viel, ohne dass die Spritpreise Höchstwerte wie jetzt erreicht hätten. Im Juli 2008 stieg der Dieselpreis im Durchschnitt auf den Höchstpreis von knapp 1,54 Euro.

Derzeit kostet ein Barrel Öl aber nicht einmal 90 Euro, doch an der Tankstelle kostet Diesel noch immer etwa 1,80 Euro. Weiterhin erklären nur Spekulation und Gier diese hohen Preise.

Da die EZB inzwischen die Zinsen anheben musste, hat sich aber der Wechselkurs gegenüber dem US-Dollar wieder etwas verbessert. Da der Euro zum Teil sogar unter die Parität zum Dollar gefallen war, wurde darüber Energie zusätzlich verteuert. Öl und Gas müssen in Dollar bezahlt werden.

Inzwischen müssen für einen Euro aber wieder 1,06 Dollar bezahlt werden. Auch darüber haben die Zinserhöhungen der EZB, zu denen sie gezwungen werden musste, auch inflationshemmend gewirkt, da die Kapitalflucht eingedämmt wurde. Deshalb könnte der Peak nun auch im Euroraum überschritten worden sein. Der HVPI war im Oktober auf 10,6 Prozent gestiegen und fiel im November auf 10 Prozent.

Um wirksam die Inflation zu senken, müsste aber auch das Kartellrecht geändert werden. Doch auch das tut die Ampel nicht. "Übergewinne" werden hier weiterhin nicht einmal in geringem Umfang besteuert, während, wie im Fall der Mineralölfirmen, die Gewinne explodiert sind.

Übergewinnsteuer als Mittel gegen Spekulation

Sogenannte Übergewinne, ob aus Spekulation oder als windfall profits, sollten allerdings komplett eingezogen werden und zwar in der gesamten EU, um einem Dumping vorzubeugen.

Ausgerechnet in Italien, wo der konservative Mario Draghi die erste Übergewinnsteuer von 25 Prozent eingeführt hatte, will die rechtsradikale Giorgia Melonie sie nun für große Unternehmen verdoppeln, um weitere Milliarden in die Kasse zu spülen.

Die 50 Prozent sollen dann fällig werden, wenn die Einnahmen eines Unternehmens im Energiebereich 2022 mindestens zehn Prozent über dem durchschnittlichen Niveau der Jahre 2018 bis 2021 liegen. Allerdings werden die auch in Italien damit noch immer für ihre spekulativ hochgetriebenen Preise belohnt, welche die Inflation treiben.

In Griechenland kommt man mit Übergewinnsteuer von 90 Prozent einer realen Bekämpfung von Spekulation schon näher, aber dort hat man sie, wie in Rumänien (80 Prozent) nur auf Stromerzeuger beschränkt. Auch hier will man denen nicht wirklich auf die Füße treten, die derzeit absahnen. Deshalb werden in Griechenland über die Steuer nur 400 Millionen eingenommen, in Italien dagegen schon bisher etwa 10 Milliarden Euro.

In Deutschland aber weigert sich eine Regierung, die einen linken und sozialen Ansatz vorgibt, irgendeine Übergewinnsteuer einzuführen und bremste sogar einen EU-Gaspreisdeckel aus, der nachweislich in Spanien die Inflation gesenkt hat. In Spanien liegt die Inflationsrate nun bei 6,6 Prozent.

Es darf natürlich niemand wundern, wenn angesichts der Untätigkeit der Ampel-Regierung, in der die FDP mit Christian Lindner offensichtlich bestimmt, dass inzwischen nicht nur Energiefirmen die Inflation als Ausrede nutzen, um kräftig Kasse zu machen.

"Gewinninflation": Rückschlüsse auf Preissteigerungen

Dafür wurde unter anderem auch das Narrativ festgezurrt, dass der Ukraine-Krieg für hohe Energiepreise und Inflation verantwortlich sein soll. Dabei lag die Inflation in Deutschland im vergangenen November, also mehr als drei Monate vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, nach Angaben von Eurostat schon bei sechs Prozent.

Ein Studie des ifo-Instituts macht gerade deutlich, dass viele Unternehmen die hohe Inflation als Ausrede genutzt haben, um "Gewinne zu maximieren", wie die Tagesschau am Dienstag berichtete. Von massiver Spekulation wurde dabei nicht gesprochen, weil auch das ifo-Instituts nicht davon spricht.

Das Institut hat errechnet, dass nicht einmal die schon spekulativ stark erhöhten Preise für Energie und Vorleistungen das Ausmaß der Inflation in Deutschland erklären können. Von "Gewinninflation" wird gesprochen, da Unternehmen in einigen Wirtschaftszweigen die Preissteigerungen dazu genutzt haben, um ihre Gewinne zu steigern.

Diesen Vorgang legten Daten der amtlichen Statistik zur Wirtschaftsleistung nahe. Daraus wurden Unterschiede zwischen nominaler und preisbereinigter Wertschöpfung ermittelt. "So lassen sich Rückschlüsse auf Preisanhebungen ziehen, die nicht durch höhere Vorleistungskosten verursacht wurden", heißt es in der Presseerklärung.

Bau, Land- und Forstwirtschaft, Handel, Gastgewerbe und Verkehr

In der Corona-Pandemie hätten private Haushalte hohe Ersparnisse angesammelt. Diese seien nun aufgelöst worden, womit die Konsumnachfrage befeuert worden sei, erklärt Joachim Ragnitz. Der stellvertretende Leiter der ifo Niederlassung Dresden erklärt weiter, dass auch Entlastungen durch die Regierung dazu beigetragen haben dürften, die Nachfrage zu stützen und damit Spielräume für Preisanhebungen zu erweitern.

"Insbesondere in der Land- und Forstwirtschaft einschließlich Fischerei sowie im Baugewerbe und in den Branchen Handel, Gastgewerbe und Verkehr haben die Unternehmen ihre Preise deutlich stärker erhöht als es aufgrund der gestiegenen Vorleistungspreise allein zu erwarten gewesen wäre", sagt Ragnitz.

Einige Unternehmen scheinen den Kostenschub als Vorwand dafür zu nehmen, durch eine Erhöhung ihrer Absatzpreise auch ihre Gewinnsituation zu verbessern.

Joachim Ragnitz

In der Landwirtschaft hätten Betriebe zunächst ihre Vorräte an Dünge- und Futtermitteln aufgebraucht, in ihrer Kalkulation aber die zu erwartenden Preissteigerungen bei Nachbestellungen bereits eingerechnet, nennt er ein konkretes Beispiel.

Regulierung?

Doch bei dem neoliberalen Institut, das bisweilen auch mit unhaltbaren Theorien kommt, wie etwa dass Inflation höhere Einkommen stärker als niedrigere treffen soll, will man natürlich von Regulierung nichts wissen. Es bestehe kein Grund für staatliche Eingriffe in die Preise, wird erklärt.

Auch einer Übergewinnsteuer wird wegen einer angeblichen "verzerrenden Wirkung auf die Knappheitssignale des Marktes" eine Absage erteilt, da sie weder marktkonform noch rechtssicher durchzusetzen sei, meint Ragnitz. Der will natürlich auch keine Anhaltspunkte dafür sehen, dass hinter den Preissteigerungen Absprachen der Unternehmen stehen.

Deshalb seien auch kartellrechtliche Maßnahmen nicht hilfreich. Dabei zeigt eine Fahrt an verschiedenen Tankstellen vorbei, dass das falsch ist. Es braucht in der heutigen Informationsgesellschaft gar keine Absprachen von Chefs der Mineralölkonzerne in Hinterzimmern, um sich auf überteuerte Preise zu einigen.

Angesichts dessen, was ifo ermittelt hat, sind gegen die Aussagen von Ragnitz Änderungen am Kartellrecht aber dringend nötig. Denn es ist doch offensichtlich, dass Firmen in einer Oligopolstellung ihre Stellung am Markt massiv für eine Gewinninflation nutzen. Um die zu beenden, braucht es sowohl eine Übergewinnsteuer nahe 100 Prozent, wie es ein modernes Kartellrecht braucht.

Ragnitz meint dagegen, dass gegen überzogene Preisanhebungen "nur mehr Wettbewerb" helfe. Das ist die alte neoliberale Leier, dass Verbraucher dann "auch billigere Produkte kaufen und so die Gewinninflation dämpfen" könnten.

Das Problem ist nur, dass es die billigeren Produkte nicht gibt, wie an Tankstellen nur beispielhaft gut zu sehen ist. Von einer Forderung, die Oligopole zu zerschlagen, um wenigstens für mehr Wettbewerb zu sorgen, ist natürlich beim ifo Institut auch nichts zu lesen.