Recep Tayyip Erdogan: Aggressor im Gewand des Vermittlers

Seite 2: Unkalkulierbare Konsequenzen für die Region

Seit Beginn des Krieges in Syrien vor mehr als zehn Jahren unterstützte die Türkei die sunnitische syrische Opposition mit Waffen und Geld. Diese bestand überwiegend aus der "Freien Syrischen Armee" (FSA), unter deren Schirm auch dschihadistische Milizen mitwirkten.

In den türkisch besetzten Gebieten in Nordwestsyrien löste die Botschaft der möglichen Versöhnung Erdogans mit Assad heftige Proteste aus. Die verschiedenen islamistischen Milizen unter dem Dach der von der Türkei finanzierten "Syrischen Nationalen Armee" (SNA) fühlen sich verraten. Denn auch sie wissen um die Folterknäste des syrischen Regimes.

Eine Aussöhnung zwischen Erdogan und Assad, ein Rückzug der türkischen Besatzer und die Übernahme des Gebietes durch das syrische Regime würde für das Fußvolk der Dschihadisten Verfolgung, Folter und Gefängnis bedeuten, während sich die führenden Köpfe mit Unterstützung des türkischen Geheimdienstes rechtzeitig in die Türkei absetzen könnten.

Eine "Versöhnung zwischen der Opposition und dem syrischen Regime", wie es dem türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu vorschwebt, ist kaum vorstellbar. Die in den türkisch besetzten Gebieten Afrin, Serekaniye und Gire Spi angesiedelten Familien der Islamisten, die von der türkischen Besatzung profitierten, haben keine Perspektive unter der Herrschaft Assads. Eine neue Flüchtlingswelle in die Türkei könnte die Folge sein.

Das könnte zu einer weiteren Krise in der Türkei führen, die sich ja ihrer syrischen Geflüchteten durch Zwangsrückführungen entledigen möchte und diese Rückführungen bereits begonnen hat.

Die arabische Welt scheint sich damit abgefunden zu haben, dass der Autokrat Assad mit Hilfe Russlands wieder fest im Sattel sitzt. Europa und die USA halten zwar an ihren Sanktionen fest, sind aber insgesamt zurückhaltend, da sie kein Interesse an einem erneuten Aufflammen des Bürgerkriegs haben.

Im Gebiet der Selbstverwaltung zeigen die ständigen türkischen Drohnen- und Artillerieangriffe leider mittlerweile Wirkung: "Die Dörfer an der Grenze zur Türkei sind menschenleer. Von jeder Familie bleibt – wenn überhaupt – nur eine Person zurück, um Plünderungen zu verhindern. Leben gibt es nur noch in den größeren Städten drumherum, wie beispielsweise in Derik, Darbasiye oder Kobane." Ein großes Problem für die Städte, die dem Ansturm der Binnenflüchtlinge nicht gewachsen sind. Internationale Hilfe kommt im Gebiet der Selbstverwaltung kaum an.

Deutsche Fördergelder fließen zum Beispiel aus nicht nachvollziehbaren Gründen nur in die Region Deir ez Sor und nach Rakka begrenzt. Ein Bericht eines Bürgers aus Qamishlo (arabisch: Al-Qamishli) weist auf den Handlungsbedarf hin:

Die türkischen Drohnen sind besonders schlimm, weil sie so leise sind, so plötzlich aus dem Nichts auftauchen, dass du keine Chance zur Flucht hast. Ehe du dich versiehst, wird auf dich geschossen. Das Leben hier ist wie russisches Roulette, nur eben auf Türkisch. Das beeinflusst unser Leben massiv…

Wir leben in einem kalten Krieg, in dem durchschnittlich 20 Personen pro Tag sterben. Wir haben Verwandte, die auf der anderen Seite der Grenze in der Türkei leben. Aber auch sie sind in den letzten Tagen geflohen. Das hat zwei Gründe: Zum einen werden diese Dörfer immer wieder von Irrläufern getroffen, die eigentlich auf syrischer Seite einschlagen sollten. Ich glaube aber, dass das Kalkül ist, denn wenn auch diese Dörfer verlassen sind, kann uns die Türkei leichter angreifen...

Es ist ein Dilemma. Auch hier in Qamishli haben die meisten ihre Taschen längst gepackt. Auch ich…

Wir wissen, was auf uns wartet, wenn die Türkei einmarschiert. In Afrin wurden beispielsweise willkürlich Zivilpersonen beschossen und ermordet…

Die Türkei wird gewinnen, wenn sie niemand stoppt…

Wenn es um eine Utopie geht, die ich mir wünschen kann: Ich möchte, dass die Selbstverwaltung ernst genommen wird. Ich arbeite und studiere an der Uni Rojava auf Kurdisch. Ich will, dass mein Abschluss etwas wert ist. Dafür braucht es die Anerkennung der Selbstverwaltung. Dafür müssen wir die Weltgemeinschaft gewinnen…

Es geht um alles oder nichts!

Wird Assad sich auf Erdogans Spiel einlassen?

Von Seiten der syrischen Regierung wurde das türkische Versöhnungsangebot schmallippig kommentiert: "Wir werden keine Verhandlungen auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs führen, solange die Türkei das syrische Territorium nicht verlassen hat."

Andererseits scheint es auf Geheimdienstebene schon länger Kontakte zu geben, denn die gemeinsame Schnittmenge zwischen Assad und Erdogan ist der Kampf gegen die Bemühungen der kurdischen Bevölkerung um Anerkennung als ethnische Minderheit mit entsprechenden Minderheitenrechten.

Eine demokratische, multiethnische Region, ob für Erdogan in der Südosttürkei oder für Assad in Nordsyrien, ist für beide Autokraten ein Alptraum. Schon letztes Jahr gab es ein Treffen der Außenminister der beiden Länder, Mevlüt Cavusoglu und Feisal al-Mekdad. Mitte September fand ein Treffen des türkischen Geheimdienstchefs Hakan Fidan mit dessen syrischen Amtskollegen Ali Mamluk statt.

Bei einem Treffen des russischen Außenministers Sergej Lawrow mit seinem syrischen Amtskollegen al-Mekdad wurde eine mögliche Militärintervention der Türkei in Nordsyrien allerdings negativ bewertet, da sie zu einer Eskalation führen könnte.

Der türkische Außenminister reagierte säuerlich: "Der Iran ist dagegen, Israel ist auch dagegen. Das Regime ist auch dagegen, Russland ist auch dagegen." Auch weitere Länder, darunter die USA, hätten sich dagegen ausgesprochen. Tatsächlich seien die türkischen Operationen aber wertvoll für die Integrität Syriens – um das Land "vom Terrorismus zu befreien".

Cavusoglu unterstellte Assad, nicht die Macht zu haben, gegen die Selbstverwaltung vorzugehen: "Wenn du eine solche Macht hast, warum tust du es nicht mehr? Lass uns Verstärkung geben. Du hast nicht die Kraft, es zu tun."

Solche Äußerungen dürften nicht dazu beitragen, die angespannte Stimmung zwischen den beiden Autokraten zu verbessern. Die täglichen türkischen Drohnenangriffe auf die Region, in der auch Araber und Christen leben und wo auch immer wieder Soldaten des syrischen Regimes getroffen werden, dürften ebenfalls nicht zur Verbesserung des Verhältnisses führen. Auch dem syrischen Regime dürfte klar sein, dass es Erdogan letztendlich nur um seinen Machterhalt in der Türkei geht.

Auch der Plan der Türkei, die über drei Millionen Geflüchteten aus Syrien ‚nach Hause zu schicken‘, wird Assad nicht freuen. Schließlich sind das Syrer, die einst vor seinem Regime geflohen sind. Es ist schwer vorstellbar, dass er sie wieder willkommen heißt.

Assad wird vermutlich klare Forderungen an die Türkei stellen: Abzug der türkischen Besatzungstruppen, Einstellung der Unterstützung islamistischer Organisationen sowie die Übergabe Idlibs einschließlich des Übergangs Bab al-Hawa sowie die Autobahn M4, die Latakia mit Aleppo verbindet.

Russland wird weiterhin alles dafür tun, Assads Regierung zu stützen. Es wird weiterhin dem täglichen Drohnenterror gegen die Bevölkerung Nordostsyriens zuschauen, denn das erhöht den Druck auf die Selbstverwaltung, sich dem Assad-Regime unterzuordnen.

In einem Interview der in Damaskus akkreditierten deutschen Journalistin Karin Leukefeld mit George Jabbour, dem langjährigen Berater des ehemaligen syrischen Präsidenten Hafis Al-Assad in der jungen Welt wird dies deutlich. Jabbour plädiert für ein Viermächtetreffen im Astana-Format zwischen Syrien, Russland, Iran und der Türkei.

Die Selbstverwaltung betrachtet er wie die Türkei als Gefahr für die Einheit Syriens: "Die Türkei will gegen die kurdische Bewegung vorgehen, die bei uns in Syrien auch präsent ist. Sowohl die Türkei als auch Syrien bestehen auf der Einheit des Staates, auf der Sicherheit der Grenzen, an diesem Punkt kommen sich beide entgegen." Dies ist der gemeinsame Nenner der beiden autokratischen Regime: Ein zentralistisches System akzeptiert keine föderalen Strukturen.

In Bezug auf den Umgang mit der kurdischen Bevölkerung versucht sich Jabbour in dem Interview von der antikurdischen Politik der Türkei abzugrenzen: "Wir in Syrien haben anders als die Türkei zu den Kurden seit langem eine andere – ich möchte sogar sagen: harmonische – Beziehung. Die meisten Kurden verhalten sich gegenüber dem syrischen Staat loyal."

Aber warum gibt es dann noch immer Kurden und Kurdinnen, die staatenlos sind? Warum darf die kurdische Sprache nicht als Muttersprache in den Schulen gelehrt werden? Präsident Hafis Al-Assad hat in den 1960er-Jahren und 70er-Jahren zigtausende Kurden zu Staatenlosen erklärt, ihre Sprache wie in der Türkei verboten.

Ob die meisten Kurden gegenüber dem syrischen Staat loyal eingestellt sind, muss daher in Frage gestellt werden. Es ist in etwa die gleiche Argumentation wie in der Türkei: Sie diskriminiere keine Kurden, schließlich sei ja sogar der Chef des türkischen Geheimdienstes Kurde.

Nun ist es aber völlig normal, dass eine Ethnie keine politisch homogene Gruppe ist. Es gibt linke, rechte und liberale Kräfte, sowie unterschiedliche Religionszugehörigkeiten. Und es gibt in beiden Staaten nach hundert Jahren Unterdrückung der kurdischen Kultur und Sprache und der Diskriminierung auch viele assimilierte Kurden.

Indem sie ihre Sprache und Kultur verleugnen, erhoffen sie sich Anerkennung vom jeweiligen Regime. Daher ist davon auszugehen, dass sich die assimilierten Kurden in Syrien wie auch in der Türkei besonders loyal zum Staat verhalten. Aber was ist mit denen, die ihre Kultur, ihre Sprache, ihre Religion, ihre Geschichte leben und bewahren möchten?

In den autokratischen Staaten gehen ihre Forderungen nach einem Minderheitenstatus oft mit der Forderung nach mehr Demokratie einher. Deshalb werden sie kriminalisiert und in den Medien verschwiegen oder denunziert.