Rechtsruck durch Fußball-Sommermärchen 2006? Das war nicht die ganze These

Seite 2: Auch Treiber des Rechtsrucks: Krieg und Agenda 2010

Im Gespräch mit Telepolis stellt er seinen Befund über Fußball-Patriotismus und Rechtsruck aber auch in einen größeren gesellschaftlichen Kontext.

Eine Mitverantwortung sieht er auch bei Spitzenpolitikern der "rot-grünen" Koalition und dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder von 1998 bis 2005. Die Enttabuisierung des Militärischen und die Agitation gegen Schwächere im Zuge der "Arbeitsmarkt- und Sozialreformen" der Agenda 2010 sind hier wichtige Stichworte.

Bis 2006 waren Fußball Großereignisse nicht dermaßen nationalistisch aufgeladen wie bei der Heim-WM 2006. Die fand ohnehin in einem Land mit klarer nationalistischer Ausrichtung statt, deren Grundlagen Joschka Fischer und Gerhard Schröder gelegt hatten, erst mit dem Krieg gegen Jugoslawien 1999, dem ersten deutschen Angriffskrieg seit 1945, dann mit der Agenda 2010 und dem sozialen Kahlschlag oder auch mit der Einladung des Schriftstellers Martin Walser ins Bundeskanzleramt, obwohl oder eher weil Walser wegen seinem erinnerungsabwehrenden Antisemitismus seit seiner Paulskirchenrede und auch wegen antijüdischen Romanen in der Kritik stand.

Clemens Heni im Gespräch mit Telepolis

Kurzer Exkurs in den deutschen Herbst 1989

Man könnte sogar noch weiter zurückgehen – bis in den Herbst 1989. Linke DDR-Oppositionelle mussten damals feststellen, dass die Großdemonstrationen mit schwarz-rot-goldenen Winkelementen aus der BRD immer mehr zu einer nationalistischen Masse wurden und schon bald auch Linke, die nichts mit dem autoritärem DDR-Sozialismus zu tun hatten, ausgegrenzt wurden.

Bald begannen in Ost- und Westdeutschland organisierte Angriffe auf Migranten und deren Wohnungen. Auch damals stellte sich eine Partei, die sich mit "AfD" abkürzen lässt, zur Wahl, die sich aber Allianz für Deutschland nannte und der neben CDU, CSU und dem "Demokratischen Aufbruch" auch die Rechtsaußenpartei DSU angehörte, deren Protagonisten heute zum Teil AfD-Mitglieder sind.

Nach 2006 war Kritik am deutschen Patriotismus out

Bis in linksliberale Kreise war nach diesen Erfahrungen in den 1990er-Jahren Konsens, dass das Schwenken von "Schwarz-Rot-Gold" den gesellschaftlichen Nationalismus fördert und dass es keine klare Trennlinie zwischen angeblich akzeptablen Patriotismus und Nationalismus gibt.

Erst mit dem WM-Sommermärchen 2006 konnten sich plötzlich auch Kreise mit Schwarz-Rot-Gold anfreunden, die bis dato damit gefremdelt hatten. Das war eigentlich das Neue an 2006. Wer auch danach noch Kritik an deutschen Fahnen übte, galt auf einmal als chronischer Nörgler, der die eigene Fahne verachtet, wie ein RTL-Kommentator Heni vorwirft.

Vor 2006 hätte es eine größere Minderheit in Deutschland gegeben, die das nicht als Beleidigung, sondern als Auszeichnung empfunden hätte.

Ganz entspannt in Schwarz-Rot-Gold?

Es ist bezeichnend, dass alle, die sich jetzt über die kurze Passage von Heni aufregen, keinerlei Argumente anbringen, warum sie anderer Meinung sind. Dabei gibt es auch wissenschschaftliche Forschung, die Henis Position stützt. Erinnert sei an das Buch "Ganz entspannt in Schwarz-Rot-Gold", in dem sich die Soziologin Dagmar Schediwy aus sozialpsychologischer Perspektive dem Fußball-Patriotismus widmete. Dabei stellt sie sich auch die Frage, warum oft einkommensarme Menschen besonders häufig zur Fahne greifen.

"Die Abhängigkeit von ökonomischen Zwängen, denen sich die Mehrheit der Arbeitenden aus Gründen des wirtschaftlichen Überlebens anpassen muss, lässt sie zum Ausgleich für ihre gekränkte Selbstachtung zum Opium des Kollektivstolzes greifen", so ihr Befund.

Nationalgefühl: Zugehörigkeit auch ohne Job und Geld

Schließlich habe die Nation in Krisenzeiten den psychologischen Vorteil, dass Zugehörigkeit nicht verloren gehen kann, so die Autorin. "Während eine Stelle gekündigt und ein Vermögen verschwinden kann, bleibt die Zugehörigkeit zur Nation für die bereits Zugehörigen bestehen", so Schediwy.

Wenn die befragten Fußballfans ganz selbstverständlich erklären, "Wir werden Weltmeister", dann wird deutlich, wie die Mechanismen funktionieren. Mit dem "Wir" ist dann nicht nur die Fußball-Elf gemeint, sondern Deutschland. Daher beteuern die fahnenschwenkenden Fans auch immer, zu Deutschland zu stehen.

Schediwys Thesen zum Zusammenhang von Krisenbewusstsein und Fußballnationalismus sind durch Befragungen unterfüttert. Nur kommen sie in der aktuellen Diskussion um eine Interviewpassage von Heni gar nicht mehr vor.

Der Mythos vom toleranten Fußball-Patriotismus

Auch der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer hat die Erzählung vom toleranten Fußball-Patriotismus schon 2006 als "gefährlichen Unsinn" bezeichnet. 2006 beschäftigten sich Heitmeyer und sein Forscherteam in zwei Aufsätzen in Teil 5 der im Suhrkamp-Verlag erscheinenden Langzeitstudie "Deutsche Zustände" mit dem Fußballtaumel und den Instrumentalisierungsversuchen der Politiker.

Im ersten Beitrag weisen drei junge Wissenschaftler anhand der Langzeitdaten nach, dass Nationalstolz zu ,,Fremdgruppenabwertung'' führt. Anhand einer zusätzlichen Umfrage im August 2006 zeigen sie, dass nach der Fußball-Weltmeisterschaft befragte Personen "nationalistischer eingestellt" waren als früher Befragte.

Und weiter: "Die Vermutung, dass es sich dabei um eine neue, offene und tolerantere Form der Identifikation mit dem eigenen Land handelt, lässt sich allerdings nicht bestätigen." Denn den Zusammenhang zwischen Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit hatte der "Party-Patriotismus" nicht aufgebrochen.

Die "Du bist Deutschland-Kampagne"

Aber offenbar, schreibt Heitmeyer selbst, seien die "Schwarz-Rot-Geil-Stimmung" oder Kampagnen wie "Du bist Deutschland" der Versuch eines "surrogathaften Ankers auf schwankendem sozialen Boden".

Ein ethnisches Kollektiv soll künftig bieten, was die soziale Marktwirtschaft nicht mehr zu leisten vermag: "Über die Betonung der 'Schicksalsgemeinschaft' mit raunendem Tiefgang sollen jene Angehörige der Mehrheitsgesellschaft emotional wieder integriert werden, die andererseits sozial desintegriert worden sind."

Die Ergebnisse der Studie wurden breit rezipiert. 18 Jahre später scheinen sie vergessen. Nur Thorsten Mense erinnert in einen Text in der Wochenzeitung Jungle World daran.

Fußball-Patriotismus kann tödlich sein

Erwähnt wird auch nicht, dass Fußball-Patriotismus töten kann. Bei der WM 2010 schoss ein deutscher Fußball-Fan auf zwei Italienern in Hannover, einer starb sofort, der andere im Krankenhaus. Das Hamburger Abendblatt beschrieb die Vorgeschichte nach dem Gerichtsurteil so:

Es war in einem Lokal im Rotlichtviertel der Landeshauptstadt am 5. Juli 2010 während der Fußball-WM um die Frage gegangen, wer häufiger Weltmeister geworden war - Deutschland oder Italien. Der Streit war eigentlich geschlichtet, da fuhr der Frührentner nach Hause, holte eine Pistole, kehrte in die Bierbar Columbus zurück, sagte zu dem ersten Opfer: "Hier hast du deine vier Sterne" - vier, weil Italien viermal Weltmeister war und Deutschland nur dreimal. Dann tötete er das eine Opfer durch einen Schuss ins Gesicht und den zweiten Mann mit aufgesetzten Schüssen in den Nacken und Rücken.

Hamburger Abendblatt, 2011

Die Italiener hatten Recht, 2010 war Italien viermal und Deutschland dreimal Weltmeister. Das ist eben das Kennzeichen jedes Nationalismus, dass Fakten keine Rolle spielen, aber gekränkte nationalistische Gefühle. Und die Tat soll so gar nichts mit dem Fußball-Patriotismus zu tun haben? Das erinnert doch an die, die nach jedem islamistischen Anschlag beteuern, dass dies gar nichts mit dem Islam zu tun habe.

Hier gäbe es also viele Themen, über die sich zu diskutieren lohnt – und das kurze Video, in dem zwei Sätze von Heni herausgegriffen werden, um den deutschen Fußball-Patriotismus zu kritisieren, hätte dazu ein Anstoß sein können.

Dass es von Rechten ohne Argumente mit Hetze überzogen wurde, war zu erwarten. Dass die Bundeszentrale für politische Bildung sofort einknickt und das Video entfernt, ist aber wohl nur ein weiteres Zeichen für den vielzitierten Rechtsruck in Deutschland.

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