Rechtsruck durch Fußball-Sommermärchen 2006? Das war nicht die ganze These
- Rechtsruck durch Fußball-Sommermärchen 2006? Das war nicht die ganze These
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Bundeszentrale zitiert Politikwissenschaftler verkürzt. Auf Druck rechter Medien wird das Video gelöscht. Warum ohne Diskussion? Ein Kommentar.
Jetzt hat die Fußball-EM doch noch eine Nationalismus-Debatte ausgelöst. Aber natürlich geht es nicht um Deutschland, sondern um die Türkei. Nachdem ein Spieler den nationalistischen Wolfsgruß als Jubelgeste genutzt hatte, bekam die Diskussion auch gleich eine außenpolitische Komponente. Nun wollte der türkische Präsident persönlich zum Spiel nach Deutschland reisen – und türkische Nationalisten rufen dazu auf, den Wolfsgruß massenhaft zu zeigen.
Nun ist es sicher positiv, dass die Symbolik türkischer Ultranationalisten auf viel Ablehnung stößt. Es wäre aber wünschenswert, die Aufregung wäre genauso groß, wenn diese türkischen Nationalisten - wie Ende März 2024 an der deutsch-belgischen Grenze geschehen, auf ihre Gegner einprügeln. Ein Appell der betroffenen kurdischen Gemeinde, den nationalistischen Terror zu stoppen, fand hierzulande kaum Aufmerksamkeit.
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Stattdessen werden viele Gegnerinnen und Gegner der türkischen Nationalisten auch hierzulande kriminalisiert. In diesen Tagen jährt sich der Tod von Halim Dener, eines kurdischen Jugendlichen, der 1994 in Hannover beim Kleben politischer Plakate von der Polizei erschossen wurde. Für diesen Samstag hat ein Bündnis zu einer Gedenkdemonstration in Hannover aufgerufen.
Nationalisten-Gruß: Es geht auch um Strukturen
Dort wird auch darauf hingewiesen, dass die Grauen Wölfe und ihre faschistische Mutterpartei MHP über viele Jahre in der BRD auch von konservativen Politikern wie Franz Josef Strauß (CSU) gefördert wurden. Sie hatten das gleiche Feindbild: Linke, darunter aktive Gewerkschafter, die auch in Deutschland von den türkischen Nationalisten immer wieder angegriffen wurden.
Darüber wird aber bei der aufgeregten Debatte um türkische nationalistische Symbole kaum gesprochen. Wenn Innenministerin Nancy Faser (SPD) erklärt, diese Symbole hätten in Deutschland nichts zu suchen, warum kommt die Gegenfrage: Und wo bleibt der entschiedene Kampf gegen jeden Nationalismus und seine unterschiedlichen Spielarten?
Wie viel Nationalismus steckte im deutschen Sommermärchen?
Dann müsste auch diskutiert werden, ob der deutsche Fußballpatriotismus 2006 zur Rechtsentwicklung in diesen Land mit beigetragen hat. Der Politikwissenschaftler und langjährige Antisemitismusforscher Clemens Heni beantwortete 2019 in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau die Frage so:
Meine These ist: Ohne 2006 wäre es nicht in diesem Ausmaß zu Pegida gekommen, und ohne Pegida gäbe es keine AfD in dieser Form. Die Deutschland-Fahne bei der WM hat eine unglaubliche Bedeutung für das Zusammenschweißen von atomisierten Einzelnen, die sich zu großen Teilen gar nicht für Fußball interessiert haben. Insofern war das Thema nicht Sport, sondern nationale Identität.
Clemens Heni 2019 im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau
Warum sorgt diese Interview-Passage heute noch für Aufregung? - Zu beachten ist dabei, dass Heni keineswegs nur den Fußballnationalismus für die Pegida-Aufmärsche ab 2014 verantwortlich gemacht hat. Vielmehr sah er darin einen Faktor, ohne den es "nicht in diesem Ausmaß" zu den rechten Aufmärschen gekommen wäre.
Doch warum sorgt diese Passage aus einen längeren FR-Interview, in dem es auch um den neuen und alten Antisemitismus geht, jetzt wieder für Aufregung bei konservativen Blättern wie der Welr sowie dem ultrarechten Ex-Bild-Chef Julian Reichelt bei Nius?
Auf Druck von Rechts: Video nach wenigen Stunden gelöscht
"Eine Produktionsfirma, die für die Bundeszentrale für politische Bildung arbeitet, kam vor Monaten auf mich zu und wollte wissen, ob sie ein Bild von mir und ein Zitat aus dem FR-Interview für ein Video benutzen dürfen, was ich natürlich bejahte", so Clemens Heni gegenüber Telepolis.
Doch das knapp zweiminütige Video war diese Woche nur wenige Stunden auf der Homepage der Bundeszentrale für Politische Bildung zu sehen, dann setze die rechte Kampagne ein. Die Welt-Kommentatorin beendete ihren Kampagnentext gegen das Video mit der Erfolgsmeldung: "Es wurde inzwischen gelöscht". Das wurde vom Pressesprecher der Bundeszentrale für politische Bildung (BPB), Daniel Kraft, gegenüber Telepolis bestätigt.
Wir haben das hier jüngst veröffentlichte Reel "2006 – ein Sommermärchen für den Nationalismus" gelöscht. Die Veröffentlichung war ein Fehler. Das Video entspricht inhaltlich und in der Umsetzung nicht den Qualitätsansprüchen der Bundeszentrale für politische Bildung. Wir haben die übrigen Videos der Serie "Politik raus aus den Stadien" ebenfalls aus dem Netz genommen und werden diese einer kritischen Qualitätsprüfung unterziehen.
Daniel Kraft, Bundeszentrale für Politische Bildung
Nun muss man sich einerseits fragen, warum ein Shitstorm von konservativen und extrem rechten Kreisen ausreicht, damit die BPB einknickt. Diese Frage stellt sich auch Clemens Heni, der aber zugleich betont, dass er keinen monokausalen Zusammenhang zwischen dem "Sommermärchen" von 2006 und dem Rechtsruck von 2014 bis heute herstellen wollte.
"Ich finde es skandalös und ein Zeichen des allgemeinen Rechtsrucks seit Jahren, dass die Bundeszentrale für politische Bildung ihre eigenen Videos zu diesem Thema Fußball und Politik nun allesamt löschte", so Heni. Das hat mit einer demokratischen Diskussionskultur nichts zu tun. Es ist ein Ausdruck von Zensur und autoritärem antidemokratischem Agieren aufgrund des Drucks nationalistischer Kreise."
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