Leitkultur zwischen Lederhosen und Globalisierung: Identitätspolitik in der Krise
Volkspartei möchte festschreiben, wofür Österreich steht. Sie verwickelt sich in Widersprüche – Kritik kommt sogar vom Blasmusikverband.
Mehrere, höchst ungeschickte Werbesprüche der Österreichischen Volkspartei kursieren seit mehr als einer Woche in Online-Netzwerken. Zu dem Spruch "Tradition statt Multikulti – das ist die Leit-Kultur" (die kuriose Trennung von "Leit-" und "Kultur" wurde später korrigiert) versuchen, vor einer Hüpfburg stehend, ein Haufen Männer in Lederhosen mit sichtlicher Mühe einen Maibaum aufzustellen.
Jedes Bild bedarf der Interpretation. Mit den sichtlichen Schwierigkeiten den Maibaum zum Stehen zu bringen könnten die Impotenzängste einer verunsicherten Mehrheitskultur gemeint sein. Aber so will das die ÖVP nicht verstehen.
Trachten, Blasmusik und Leitkultur als Trennlinie
Sie will per gemeinsamen Baumaufstellen (in Österreich auch bekannt als Metapher für sich querlegen und anderen das Leben schwer machen) symbolisieren, dass das "wir" vom "die" getrennt gehört. Baumaufsteller gegen Multikulti, Speckknödel gegen Kebab. Dabei wird insgeheim ein Reinheitsgebot postuliert, dass sich blitzschnell ad absurdum führt.
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Die Männer tragen Krachlederne, die selbstverständlich ein Synonym für alpine Kultur ist – allerdings eher für die bayrische. Außerdem trägt jeder der schuftenden Herren ein anderes Hemd und eine etwas andere Hose. Uniformen sind das nicht, es ist folglich zu vermuten, hier wurde eine Art alpenländischer Synkretismus betrieben, bei dem man sich zusammensammelt, was einem als kleidsam erscheint, ohne darauf zu achten, ob manches davon vielleicht aus einem anderen Tal stammt.
Der Bruch mit der Leitkultur: Eine gesellschaftliche Reflexion
Im zweiten Bild der Kampagne ist eine Trachtenkapelle zu erkennen und würde man die zur Schau gestellten Gewänder kundigen Historikern übergeben, dann würden die vermutlich aufzählen, wie modische Einflüsse aus aller Welt zu diesen Formen geführt haben, die historisch meist viel jünger sind, als die Träger annehmen. Ob Tracht und Blasmusik wirklich für "uns" und für "Österreich" steht, ist damit eigentlich eher ungewiss.
So wurde es auch Erich Riegler, dem Präsident des österreichischen Blasmusikverbands zu bunt und er distanzierte sich in der österreichischen Zeitung Standard vom Begriff der "Leitkultur". Nicht einmal die Blaskapellen wollen noch für die Heimat vereinnahmt werden und darin darf das Land seinen zivilisatorischen Reifungsprozess erkennen.
Komplexe der Leitkultur: Volkspartei auf der Suche nach Identität
Im ORF-Fernsehinterview am 2. April 2024 verrennt sich der ÖVP Generalsekretär Christian Stocker dann tüchtig, weil er unmöglich bestimmen kann, welche Vergangenheit er als Eichstrich festzulegen gedenkt. Ist es das wahre Österreich, das die "ererbte Vätertracht" der Lederhose beim Baumaufstellen trägt?
Er will eine Leitkultur gegebenenfalls per Gesetz festhalten, ist sich aber zugleich nicht sicher, ob es überhaupt nötig sein wird. Was die Leitkultur ausmacht, soll ein Expertengremium eruieren, dem er jetzt schon sehr dankbar ist. Sollte sich im "Bild der Leitkultur die Notwendigkeit finden, etwas gesetzlich zu verankern", dann werde es die ÖVP tun.
Eine starke Ankündigung, von der sich allerdings nur schwer sagen lässt, was sie überhaupt bedeuten soll. Wer so schwammig fabuliert, weiß im Grunde nicht, worüber er redet oder reden soll. Die blumig, vagen Formeln überschlagen sich bei Stocker. Viel ist von "unsere Werte", "Brauchtum" und dergleichen die Rede, ohne dass je klar würde, was die Partei eigentlich vorhat.
Identitätssuche zwischen Volksmusik und Rock'n'Roll
Zumindest will man irgendwie die Bevölkerung fragen, was Österreich ausmacht und vielleicht wissen Alteingesessenen am besten, was zur Leitkultur gehört? Nun ist aber gerade für viele Ältere in Österreich der Rock’n’Roll wichtiger als die volkstümliche Musik.
Weshalb der schlaue Andreas Gabalier als Musiker der Greise und Frühvergreisten diese kluge Kombination ausgewählt hat und als "Volks-Rock’n’Roller" die Nostalgie in der Provinz gut bedient. Vielleicht sollte die ÖVP einfach Elvis Presley in die Verfassung schreiben?
Tourismus und Leitkultur: Balanceakt zwischen Innovation und Tradition
Die bemühte und nie widerspruchsfreie Abgrenzung ist negativ gewendet Rechtspopulismus, der Angst vor allem Fremden schürt. Positiv gewendet ist sie der "Unique Selling Point", nach dem die Tourismusindustrie fleißig sucht. Die ÖVP schlägt sich aktuell mit beidem herum.
Wie sich jüngst im sogenannten Rülpsvideo der Tirol Touristik zeigte. Unter dem Titel "Tirol kann man nicht erklären, sondern man muss es erleben", rülpst eine Familie, bis der Alpensee Wellen schlägt. Die Empörung zeigte, dass das Aufstoßen wohl eher nicht zur österreichischen Leitkultur gehört.
Tourismuslandesrat Mario Gerber der ÖVP in Tirol musste zu Kreuze kriechen (was möglicherweise auch ein österreichisches Kulturgut ist) und bat um Verzeihung wegen des "irrtümlich auf Social Media geposteten Video der Tirol Werbung".
Hier geht es nicht um Leitkultur, aber um "Leitlinien", die nun eng abgestimmt werden müssen zwischen Tourismus, Wirtschaft und Regierung. An der Stelle könnte jemandem auffallen, wie kompliziert dies alles ist, wenn erst festgelegt werden muss, was Tirol ausmacht und was nicht.
Deftige Rülpser, stramme Waden und diffuse Verlustangst
Keine Frage, es ist eher ungeschickt, Tirol mit Rülpsern zu bewerben, denn warum sollten Menschen in den Alpen mehr aufstoßen als an der Nordseeküste? Aber es zeigt zugleich, wie beliebig alle touristischen Zuschreibungen an die "Landsmannschaften" sind. Denn glaubt irgendwer ernsthaft, dass die Tiroler Wadeln wirklich strammer sind?
Wenn man schon nicht sagen kann, was österreichische Leitkultur ist, dann kann trotzdem Angst davor geschürt werden, dass sie verloren geht. Die ÖVP bedient die Furcht, es könne den Menschen in Österreich etwas weggenommen werden und kann dann wiederum nicht sagen, was eigentlich. Dass der Zillertaler Hochzeitsmarsch gecancelt wird?
Planspiele der Volkspartei: Integration oder Isolation?
Die Integrationsministerin Susanne Raab, ebenfalls ÖVP, möchte im Rahmen des "Österreichplans" der ÖVP den "Grundkonsens des Zusammenlebens" stärken und engagiert einen Expertenkreis aus Menschen, die die Welt ziemlich genau so sehen wie sie selbst.
Wer so den Konsens in der eigenen Familie sucht, braucht sich über Gegenwind nicht zu wundern, der in Österreich nicht nur von der Opposition, sondern auch von Sozialverbänden und Kirchen kam.
Es ist mit bloßem Auge zu erkennen, dass die "Toleranz", "Werte", "Demokratie", "Gleichberechtigung der Frau" und das "jüdisch-christliche Erbe" von der ÖVP nur heruntergebetet wird, weil einige – erraten, es sind die Moslems – dies alles angeblich nicht teilen und eine Gefahr darstellen. Damit wartet die ÖVP im Vorwahlkampf bereits hüfttief im Rechtspopulismus.
Den können andere aber besser. Die ÖVP will die Heimatkarte spielen und übernimmt Argumentationen von AfD und FPÖ, teilweise bis in die einzelne Formulierung hinein.
Wider besseres Wissen: Anleihen bei rechtsextremen Identitären?
Peinlicherweise war es ausgerechnet der eigene ÖVP-Bundeskanzler Karl Nehammer, als er noch kantiger Innenminister war, der feststellte, dass die rechtsextremen Identitären in ihrer Propaganda nicht mehr die Sprache des dritten Reiches bedienen, sondern an neuen Formulierungen zu erkennen sind. Eine davon ist, laut Innenminister Nehammer, die Rede von der "Leitkultur".
Die ÖVP kann von dem Schema "wir gegen die" einfach nicht lassen. Bei der Konferenz der Landeshauptleute in St. Pölten am 3.4 verschreibt sich die niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner dem Kampf gegen den Antisemitismus. Grundsätzlich löblich, nur sitzen mit der FPÖ nachweisliche Antisemiten in ihrer eigenen Landesregierung, die lustig gemeinte Lieder über den Holocaust verbreiten ließen.
Den angedachten Pflichtbesuch im Konzentrationslager empfiehlt Mikl-Leitner insbesondere auch für Neubürger als Integrationsmaßnahme. Wer erklärt ihr nur, dass der beste Kampf gegen den Antisemitismus die Ablehnung jedweder Art von Rassismus wäre? Indem Juden gegen Moslems ausgespielt werden, erteilt man auch dem Antisemitismus einen Bärendienst.
Kulturkampf in Österreich: Irrlichtern um Identität und Tradition
Wenn die ÖVP so weiter irrlichtert, dann wird Österreich bis zur Nationalratswahl im Herbst einen üblen Kulturkampf durchstehen müssen. Jenseits des ganzen unsinnigen Brimboriums unausgegorener Wahlkampfmaschen, wäre es im Grunde recht einfach etwas für das gute Zusammenleben zu tun.
Dafür braucht es keine Direktiven und Maßregelungen. Besser wäre die Investition in Bildung (von der Elementarpädagogik bis zur Hochschule), mehr Geld für das Zusammenleben im öffentlichen Raum, das heißt weniger Polizei, aber mehr Streetworking, mehr Mittel für die soziale Sicherheit und all diese Dinge, die Menschen zusammenführen und ihnen einen friedlichen Dialog ermöglichen.
Damit bricht man Klischees und Vorurteile auf. Seien es sexistische oder rassistische, seien es jene, die in Kreisen der Migrationsgruppen gehegt werden oder jene, die sich die Mehrheitskultur zu eigen macht und an die sie nur sehr ungern erinnert wird.
Kultur kann und sollte Befreiung sein. Die Dinge können besser werden, unter anderem dadurch, dass der Dialog gesucht wird, um neue Formen des gemeinsamen Kulturlebens zu entwickeln. Das geht viel besser ohne eine Festschreibung der Leitkultur, für die man sich nachher ja doch nur schämen muss.