"Reden erst die Völker selber, werden sie schnell einig sein"?

Transparent von Aktivisten an der Balduintreppe in Hamburg. Bild: Nadja Maurer

Wie der Solidaritätsgedanke in der Debatte über Migration für Verwirrung sorgt. Ein Szenebeispiel aus der Hamburger Hafenstraße

Der heutige Internationale Tag der menschlichen Solidarität gibt Anlass, ein Schlaglicht auf die Vielfältigkeit der Auffassungen und Praktiken eines linken Kampfbegriffes zu werfen. Ein Beispiel solidarischer Praxis findet sich in der Hamburger Hafenstraße.

Ein Teil der Bewohnerschaft der ehemals besetzten Häuser solidarisiert sich mit afrikanischen Geflüchteten, die sich mehrheitlich dort aufhalten, um als Straßendealer Betäubungsmittel zu verkaufen.

Südlich der Reeperbahn ist ein offener Drogenmarkt mit einer anwachsenden Anzahl von Händlern etabliert. Vor allem die Sichtbarkeit der Szene, fast ausschließlich junge Männer westafrikanischer Herkunft, führte dazu, dass die Polizei seit 2016 mit einer Taskforce versucht, die "öffentlich wahrnehmbare Drogenkriminalität" zu bekämpfen.

Neben der Formierung polizeikritischer Bürgerinitiativen verfestigte sich eine Situation, in der die Nachbarschaft bei Kontrollen Pulks bildet und Passanten in polizeiliche Maßnahmen intervenieren.

Der Drogenhandel spaltet das Quartier: Während sich viele Anwohner durch die Dealer gestört fühlen, prangern andere an, dass vergleichsweise harmlose Kriminalität, verübt von marginalisierten Menschen mit prekärem Status, mit Nachdruck strafverfolgt würde, während man organisierte Kriminalitätsstrukturen gewähren ließe. Der Polizei wird eine Gegnerschaft gegen prekäre Minderheiten sowie Rassismus unterstellt:

In St. Georg haben die noch leichteres Spiel. (…) Da geht es gegen Prostituierte, Obdachlose, gegen Schwarze und Dealer. Hier und dort ist das Ziel der Politik Vertreibung. Aber hier ist halt schwerer, weil es die Hafenstraße ist.

Anwohner

Ich finde es absurd, dass ausgerechnet das Ende der Kette verfolgt wird.

Anwohnerin

Die spezifischen Unterstützungsformen sind das Organisieren von Kundgebungen, um Kritik an der EU-Flüchtlingspolitik zu üben. Das Einmischen in polizeiliche Maßnahmen ist zugleich Widerstands- wie auch Solidaritätshandlung, die auch dazu dient, von Personenkontrollen Betroffene darin zu unterstützen, Rechtsmittel einlegen zu können.

Auch soll durch den Beistand ihre Würde – immerhin geschehen Kontrollen vor den Augen der Öffentlichkeit – gewahrt und die Demütigung, die einer Polizeikontrolle innewohnt, abgemildert werden. Weitere Hilfsangebote sind die Bereitstellung von Wlan, eines Stromkabels zum Telefonaufladen, und die Gewährung des Aufenthalts im eigenen privaten Garten, in dem sich mutmaßlichen Dealer vor Polizeikontrollen schützen können.

Selbst solidarische Anwohner fühlen sich gestört

Fast ausnahmslos wird die Gegenwart der Afrikaner auch von solidarischen Anwohnern als belastend, störend, und die Männer als aufdringlich und unzuverlässig empfunden. Vergebliche Versuche, durch Kontaktaufnahme ein gedeihliches Miteinander zu verabreden, mündeten in Ratlosigkeit und Resignation:

Man kommuniziert, dass die Geflüchteten nachts nicht hier sein dürfen. Aber das muss man auch durchsetzen. Man lässt die da sein und versucht, denen Angebote zu schaffen (und) sich mit denen zu organisieren. Es ist nicht so, dass alle sich freuen, wenn hier 30 Männer im Garten stehen. Zum Beispiel wenn man im Homeoffice arbeitet oder schlafen möchte ist das nervig. Aber hauptsächlich ist die Polizei das Belastende.

Anwohnerin

Dieser Artikel handelt nicht von Moral: Die Autorin bewertet hier nicht das Begehen von Straftaten durch arme Menschen und ebenso wenig die hohe Polizeipräsenz. Auch die Sichtweise, Politik und Polizei handelten rassistisch, soll hier nicht untermauert oder widerlegt werden. Es geht um die Koexistenz unterschiedlicher Erwartungen an und Aufladungen des Solidaritätsbegriffs.

Innerhalb der gesellschaftlichen Linken konfligiert in der Migrationsfrage der menschenrechtliche mit dem Anspruch sozialstaatlicher Solidarität. Eine den Sozialstaat schützende Migrationspolitik kollidiert mit Menschenrechten.

Zugleich würde eine menschenrechtlich gebotene Open-Border-Politik die Anforderungen an den Sozialstaat (die letztlich die materielle Grundlage für den Schutz von Geflüchteten bilden) unterminieren. Die Forderung nach Solidarität "für alle" geht mit der Preisgabe staatlicher Schutzpflichten einher.

Doch nicht nur die hiesige demokratisch sozialisierte Linke ist gespalten, wenn es um Solidarität geht. Die gegenseitige Bezugnahme der linken Anwohnerschaft und der afrikanischen Männer am Hafenrand mit dem Verweis auf "Solidarität" lässt vermuten, dass jene zwar immer eine Vergemeinschaftungsofferte ist, aber die Wertvorstellungen von Gemeinwohl und kollektiver Verantwortung nicht frei von Widersprüchen sind.

Begriffsgeschichtlich ist Solidarität ein "Fuzzy Concept": Das im Nachklang der Französischen Revolution ausformulierte Prinzip der Brüderlichkeit a.k.a Solidarität ist ein moralischer Wert.

In der politischen Theorie der Moderne dagegen ist Solidarität ein normativer Anspruch an Gleichstellung und gleiche Rechte für alle. Zum tradierten normativen Fundament des Solidaritätsbegriffs gehört es, Opferbereitschaft zu verlangen.1 Dies hängt nicht zuletzt mit der im 19. Jahrhundert entstandenen Auffassung von der Nation als Solidargemeinschaft zusammen, durch die sich ein Schuldverhältnis konstituiert: Der Einzelne wurde zu Transferleistungen verpflichtet mit dem Verweis auf die "soziale Schuld", die gegenüber vorangegangenen Generationen abzutragen war.2

Solidarität ist begrenzt und schließt aus

Auch die christliche Soziallehre formuliert Solidarpflichten als eine ethische Leitidee. Im Gegensatz zu universalistisch gerichteter Gerechtigkeit oder Ethik ist Solidarität jedoch partikular: Sie hat eine begrenzte Reichweite und Verfügbarkeit.

Dadurch generiert Solidarität immer auch Ausschließungen. Überdies spielen Gefühle eine zentrale Rolle bei der Konstruktion von einem "Wir-Gefühl", das als starke Motivation für Solidarität fungieren, allerdings auch Partikularismen generieren und Feindbilder fördern kann.

Solidarität kann nur intrinsisch durch den Antrieb einer inneren Überzeugung funktionieren. Dabei geht es um die Ausweitung von Betroffenheit durch die Unterstützung anderer in ihrem Kampf um Rechte. Diese Betroffenheitsausdehnung kann ohne direkten Bezug zu den Adressaten von Solidarisierungen und sogar ohne deren Wissen geschehen.

Viele der Anwohner, die sich mit den afrikanischen Männern solidarisieren und sich für Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisse und gegen die Einwanderungspolitik einsetzen, pflegen bedingt durch Altersdifferenz, Lebenssituation, Einstellungen und die weitgehende Abwesenheit gemeinsamer Interessen kaum oder gar keine persönlichen Kontakte zu den Dealern.

Auch Kommunikationshindernisse und eine hohe Fluktuation führen dazu, dass es wenig Verständigung gibt. Dabei sind Zuschreibungen und Othering seitens der Anwohner recht verbreitet:

Die meisten sind Muslime und finden Drogen gar nicht gut. Die haben konservative Wertbilder und wollen möglichst schnell eine Familie haben und einen Job. D…… Das ist nicht von ungefähr, dass das schwarze Männer machen und nicht weiße. Es liegt an Kolonialismus, Globalisierung, Rassismus, Weltordnung und so.

Anwohnerin

Das Referenzobjekt der Solidarität liefern also nicht einfach diejenigen, die es zu schützen gilt. Vielmehr geht es – ganz klassisch – stets auch um imaginierte Gemeinschaft. Mit dem Stichwort der imaginierten Gemeinschaft ist die Kernfrage des Solidaritätsbegriffs erreicht, nämlich welche Kollektivgüter überhaupt realisiert werden sollen.

Für einige Anwohner in der Hafenstraße ist die Solidarisierung mit den Afrikanern eingebettet in die politische Forderung nach gesellschaftlicher Inklusion und Teilhabemöglichkeiten für alle, unabhängig von der Herkunft. Aus dieser Perspektive sind die Auseinandersetzungen am Hafenrand als Teil eines Inklusionsprozesses in ein gesellschaftliches System von Berechtigungen, also Demokratisierung zu verstehen.

"Solidarität" als greifbares Hilfsangebot

Dagegen ist der demokratische Rechtsstaat – mit dem die meisten Geflüchteten zunächst in Erstaufnahmeeinrichtungen, in der Ausländerbehörde, und (im vorliegenden Beispiel) in polizeilichem Gewahrsam Bekanntschaft schließen – für die Dealer nicht unbedingt eine positive Referenzgröße.

Mit "Solidarität" assoziieren sie greifbare Hilfsangebote und ad-hoc Unterstützungsstrukturen in volatilen Netzwerken – was nur plausibel und biografisch bedingt ist durch die Erfahrung von Flucht und Migration. Die Fluchtrouten von Westafrika in Richtung afrikanische Mittelmeerküste und oft via Ostafrika sind hochriskant und gefährlich.

Migranten stecken in Gefälligkeitsökonomien, Schuldverhältnissen und in Abhängigkeiten. Dazu kommen die Erwartungen an Remittenden der Familie und der Dorfgemeinschaft im Herkunftsland, und die polizeiliche Strafverfolgung mit dem Risiko der Abschiebung oder einer Haftstrafe.

Ihr Nexus ist vielmehr "Glokalität", globale und doch stark orts- und situationsgebundene Netzwerke. Teilhabe bedeutet für die afrikanischen Dealer vorwiegend die Möglichkeit, an Wohlstand zu partizipieren. Von der örtlichen Polizeiwache heißt es, sie dächten, irgendwann angegriffen und zurückgeführt zu werden. Solange versuchten sie, so viel Geld wie möglich zu machen:

Die Menschen sind leider, seitens der organisierten Strukturen dahinter, beliebig austauschbar. Wir hatten Phasen, wo wir nur ‚Duldungen aus Baden-Württemberg‘ hatten, dann waren aus ostdeutschen Ländern viele vertreten. Es sind immer wieder neue Gesichter da. Viele werden rekrutiert in Asylbewerberheimen, um hier zu verkaufen. Da wird es irgendein Versprechen geben.

Polizeiwache

Partizipation mittels rohem Kapitalismus ist mit demokratischer Rechtsstaatlichkeit, die nicht nur Strafverfolgung qua Legalitätsprinzip, sondern auch den Schutz und die Wahrung von Rechten Schutzbedürftiger regelt, nicht widerspruchslos vereinbar:

Wer nicht arbeitet, der kann nach Afrika gehen. …… Wenn jemand nicht arbeiten will, er müsste zurück nach Afrika. Das ist klar.

Afrikaner, Hafenstraße

Das zweckrationale Handeln der Dealer mit dem Ziel der Profitmaximierung steht im offensichtlichen Widerspruch zur Ideologie des Solidaritätsspektrums. Denn Ersteren geht es nicht um eine liberale oder gar linke Positionierung.

Die Solidarität wird einer extrem marginalisierten Gruppe zuteil, die auch von Befürwortern einer humaneren Flüchtlingspolitik ansonsten wenig beachtet wird: junge, gesunde, männliche Erwachsene mit der Hoffnung auf bessere Lebenschancen.

Die Schnittmenge der geteilten Anschauungen oder der gemeinsamen Ziele wird auf dem Rekurs auf Solidarität eher verschleiert als erhellt.

Im Titel dieses Beitrags – ein Zitat aus dem Solidaritätslied, gedichtet von Bertolt Brecht und vertont von Hanns Eisler – lassen sich nicht die Dilemmata erahnen, die mit einer Verständigung über noch zu realisierende Kollektivgüter verbunden wären.

Der Artikel und die angeführten Zitate basieren auf einer ethnographischen Konfliktanalyse im Quartier St. Pauli-Süd::https://criminologia.de/blog/wp-content/uploads/2021/12/Report_Balduintreppe_FosPol_Maurer.pdf