Reflexionen über den Nobelpreis
Tom Appleton fürchtet, dass Kazuo Ishiguro eine zweite Alice Munro ist, und hofft, dass die Schweden nächstes Jahr endlich auf Günter Wallraff kommen
Letztes Jahr, als der Literatur-Nobelpreis verliehen wurde, befand ich mich gerade in Keuruu, Finnland. Bis dahin hatte ich, über einige Jahre hinweg, immer wieder mal lange (aber nicht unbedingt langweilige) Artikel über Bob Dylan geschrieben, immer mit dem gleichen Tenor, "Auch in diesem Jahr wieder ist der Literatur-Nobelpreis NICHT an Bob Dylan verliehen worden".
Es hatte so ein bisschen was von einem Scherz, denn ich war mir nicht mal hundertprozentig sicher, dass Bob Dylan nun unbedingt einen Literaturpreis bekommen müsste, oder sogar ausgerechnet den Nobelpreis für Literatur. Obwohl es ja unzählige Menschen auf der ganzen Welt gibt, die seine Texte stundenlang aus tiefstem Herzen daherwimmern können. Sie haben sich seine Platten Jahrzehnte lang immer wieder reingepfiffen, und mitgesungen - und nun können sie eben jede seiner unübertrefflichen Formulierungen auswendig aufsagen.
In der Hinsicht hat Dylan seinem größten Konkurrenten auf dem Feld einiges voraus. Charles Bukowski mag vielleicht der amerikanische Poet mit den größten Buchauflagen sein - und die Leser haben mit Sicherheit auch jedes seiner Gedichte wenigstens einmal überflogen - aber beim Aufsagen können wohl nur die eifrigsten von ihnen mehr als nur ein paar Sätze aus dem Gedächtnis rezitieren. Natürlich hätte irgendein Verlag in Amerika nun rasch noch ein Buch auf den Markt bringen können, mit Dylans schönsten Gedichten. Sozusagen die Nobel-Collection. Aber das hat meines Wissens niemand getan. Ich glaube, die Leute hinter, vor und rund um Dylan herum betrachteten es nicht als vorrangig, Dylans Texte in ein Buch zu stecken. Man kann sagen, Amerika hatte sich in 50 Jahren zu einer Nation der Nicht-Leser entwickelt.
Jedenfalls war ich 2016 in Keuruu, rund 300 Kilometer nördlich von Helsinki - und in dem Moment ohne Computer oder funktionables Smartphone, also ganz ohne konkrete Beziehung zu Bob Dylan. Genau in dem Moment musste er nun tatsächlich den Literaturnobelpreis gewinnen. Die Redakteure bei Telepolis stellten also einen meiner Texte von vor ein paar Jahren auf die Startseite, und gut war's (vgl. Literaturnobelpreis für Bob Dylan).
Kurze Zeit später war ich bei der Buchmesse in Frankfurt und hörte einen Besucher, der sich gerade ein Buch mit Texten von Leonard Cohen betrachtete. "Der hätte den Nobelpreis noch eher verdient!" meinte der Mann. Ein paar Tage später fotografierte ich irgendwo in Frankfurt ein Poster, das ein Konzert von Leonard Cohen ankündigte. Zufällig hatte ich das Foto an genau dem Tag gemacht, dem 21. Oktober 2016, als Cohen sein Konzert in Deutschland hätte geben sollen. Tickets für die nächste Tournee, 2017, gab es bereits im Vorverkauf. Doch mit der Tournee, ebenso wie mit einem möglichen weiteren Literaturnobelpreis für einen Pop-Poeten im nächsten Jahr, war es Essig. Am 7. November 2016 hatte Cohen seine leibliche Hülle abgeschüttelt. Er hatte das Zeitliche gesegnet. Er war gestorben.
Dylan hatte in der Zwischenzeit angefangen, seine Neuinterpretationen der Songs von Frank Sinatra einzuspielen. Der große Tom Lehrer hatte einst seine Karriere als Amerikas wichtigster satirischer Liedermacher an den Nagel gehängt, weil er meinte, wo ein Henry Kissinger den Friedensnobelpreis bekommen konnte, da hätte die Satire ausgedient. Lehrer nahm jedenfalls den Nobelpreis noch ernst.
Dylan benahm sich den Schweden gegenüber eher rüpelhaft. Wie Obama, dessen langweilige und bereits verramschte Autobiographie Ein amerikanischer Traum — Die Geschichte meiner Familie ihn dann aber doch noch (nach seiner Wahl, 2008!) umgehend zum Millionär machte, hatte auch Dylan das pingelige Nobel-Geld nicht nötig. Wobei Obama es ja als Friedenspreis erhielt, als Vorauszahlung auf den Frieden, nicht als Preis für eine bereits irgendwo —z.B. in der Literatur — erbrachte Leistung.
Na jedenfalls war ich in Keuruu, und der Vikar vor Ort zeigte mir mit großer Begeisterung seine komplett aus schwerem Holz gezimmerte Kirche aus der Lutherzeit - und dann enthusiasmierte er sich noch zusätzlich über Bob Dylan. Er selbst spielt die Gitarre, und sein Lieblingssong heißt "Knock-Knock-Knocking on Heaven's Door". Ich verbiss mir die Bemerkung, dass ich schon seit Jahren jede Dylan-Compilation meide, bei der dieser Song mit dabei ist. Andererseits hatte ich mir unlängst eine Dylan-Scheibe mit dem Titel "Slow Train Coming" aus dem Internet runtergeladen, und befunden, dass die Songs hier denen auf "Street Noise" in Nichts nachstanden, egal ob mit oder ohne Jesus.
Auch, dass mich die Songs eher fadisieren, also langweilen, blieb sich Flasche wie Dose. Ich war zu dem Schluss gekommen, dass die Juroren, die jedes Jahr den Preisträger bestimmten, ohnehin im Schnitt um die 80 sein müssten - und somit seniorengerechte Leseempfehlungen abgaben. Bei der österreichischen Autorin Elfriede Jelinek hatten sie ja das Glück gehabt, dass der großartige österreichische Filmemacher Michael Haneke Die Klaverspielerin 2001 mit ein paar international bekannten französischen Stars verfilmt hatte. Da musste Frau Jelinek dann nimmer lange auf den Preis warten.
Anders als z. B. die bedeutendste und schlechthin erfolgreichste österreichische und deutschsprachige Autorin des 20. Jahrhunderts an sich, eben: Vicki Baum, eine dezidierte Antifaschistin, die den Preis zeitlebens nie bekam. Dass Elfriede Jelinek als selbstdeklarierte Kommunistin firmiert, hatten die Herren in Schweden offenbar rein akustisch überhört, sonst wär vielleicht der Handke einmal für den Literatur-Oscar dran gewesen.
Als der Nobelpreis gestartet wurde, 1901, hatte auch Thomas Mann seine "Buddenbrooks" veröffentlicht. Als 25jähriger. Den Preis bekam er aber erst 1929 - und zwar (wie die Jury vermerkte) "nur für die Buddenbrooks, nicht etwa auch für den Zauberberg". Ob sie sowas wohl auch dem Dylan in die Urkunde geschrieben haben? "Nur für Knock-Knock-Knocking on Heaven's Door", nicht etwa für "Brownsville Girl"?
Die alten Herren (und vielleicht auch Damen) der Jury kämpfen sich tapfer jedes Jahr durch einige empfohlene Bücher - und so kam es, dass sie zwischen Schlaf und Wachen endlich eine Autorin fanden, die dem langweiligen Leben auf dem schwedischen Lande voll gerecht wurde. Es war die Kanadierin, deren Namen ich immer wieder nachsehen muss, weil ich ihn sofort wieder vergesse — Alice Munro.
Mittlerweile habe ich acht ihrer Bücher gelesen, und ich muss sagen: Es ist so, als ob man ein Puzzle-Spiel zusammensetzt, bei dem man nur die rückwärtigen Seiten der Puzzles zu Gesicht bekommt. Auf diese Weise kann man jahrelang immer wieder die gleichen Geschichten lesen, man ist entweder im Lese-Himmel, oder in der Lese-Hölle, es ist schnurtzpiepegal, immer das Gleiche. Dann, 2015, gaben sie den Preis an die russische Schriftstellerin Svetlana Alexievich, eine wunderbare Autorin, ich sage das ganz ohne jeden Scheiß.
In diesem Jahr ist nun Kazuo Ishiguro dran gekommen, wieder ein Pensionistenfreund, und die Bücher sind in einfacher Sprache gehalten, damit auch amerikanische Leser die Texte in Übersetzung locker verstehen können. Ungefähr auf Seite 5 oder 6 kommt dann auch gleich ein großer Baum vor, der vor dem Haus steht (in dem Roman, den ich soeben angefangen habe) - und da geht es mir genauso wie mit dem Haus, wo ich vor einigen Jahren wohnte, bevor ich meine Finnen kennenlernte:
Auch dort stand eine gigantische Douglastanne HINTER dem Haus. Aus dem richtigen Winkel betrachtet sah sie aus wie ein wildes Mammut aus der Urzeit. Ich fürchte, dieser Ishiguro wird dann doch wieder eine zweite Alice Munro werden. Vielleicht kommen die Schweden nächstes Jahr doch endlich auf Günter Wallraff, auf den tippe ich nämlich auch schon seit langem.
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