Reformoffensive in Deutschland
Von der politischen Tatkraft im Wahlk(r)ampf
"Wenn wir uns zwischen Modernisierung und Gerechtigkeit entscheiden sollten - dann hätten wir schon verloren. Und zwar nicht als Partei, sondern als Land", meint Kanzler Schröder banalpragmatisch und man möchte mit dem abgestandenen Witz antworten, ob denn die Modernisierung, die hier politisch programmiert wird, das auch weiß.
Politik begleitet hartnäckig der Generalverdacht, dass sie nichts zu bewirken vermag, was die widrigen Verhältnisse nicht zulassen. Die wahre Opposition der Regierung sind die Verhältnisse, als deren Sachwalter sich die jeweilige Parlamentsopposition aufspielt. Da ist es nur fair, dass andererseits gilt: Sind die Verhältnisse günstig, verwandeln sie sich in einer politrhetorischen Sekunde zu den Effekten politischen Handelns einer tatkräftigen Regierung. Parteien behaupten in ihren programmatischen Aussagen unverfroren, die Verhältnisse so richten zu können, dass ihnen das Schlechte ausgetrieben wird, um das immer Bessere wirklich werden zu lassen. So bleibt es ein flagranter Widerspruch, auf der einen Seite die Arbeitslosigkeit nach nun vier ergebnislosen Jahren wieder zum behebbaren Problem zu deklarieren und andererseits auf globale Konjunkturdaten zu verweisen, die Gesellschaften in das Unvermeidbare hoher Arbeitslosigkeit zwingen.
Dieses unverhohlene Paradox nationaler Politik, "wir können handeln, obwohl wir nicht handeln können", sollte dem Wähler eigentlich so sauer aufstoßen, dass er diesen Verlautbarungen die Deckungsmasse entzieht, sprich: seine Kreter abwählt. Doch der Wähler hält sich mit solchen Nullsummenspielen politischer Selbstlegitimation schon deshalb nicht allzu lange auf, weil er politisch auf- und abgeklärt genug ist zu wissen, dass keine Partei je anders reden oder fundamental anders handeln könnte.
Mediendemokratien funktionieren nicht so, dass wir Politikern die uns einmassierten Wahrheiten und Zukunftsvisionen wirklich abnehmen würden, sondern in der zynischen Gewissheit, dass ihre Rhetorik so austauschbar ist wie Kabinettsposten. In diesem Rahmen verkümmert etwa die Kritik Guido Westerwelles an Scharping-Nachfolger Struck, er verstehe nichts von Verteidigungspolitik, zum expertokratischen Schwindel, da wohl die Sachkompetenz von Ministern noch nie eine Einstellungsvoraussetzung für einen Kabinettsposten war.
Die Politik der zappenden Zeitgenossen
An sich weiß der Wähler, dass er ein Störfaktor der immer indirekter werdenden Demokratien ist, die ihre Gestaltungsmacht sukzessive an suprastaatliche Institutionen und global agierende Wirtschaftsmächte verlieren und Handlungsstärke dort medial inszenieren, wo sie - wie etwa bei Futtermittelskandalen - bedingt plausibel erscheint. Der aufgeklärte Wähler spielt als augenzwinkernder Komplize das Demokratiespiel mit, gibt sich mal als widerspenstiger Stimmungswähler oder kritischer Begleiter seines jeweiligen Wahlkreishelden, um die fragile Autosuggestion von Politikern nicht zu enttäuschen, sie veränderten die gesellschaftliche Wirklichkeit hin zum kollektiven Wohlergehen. Kein Mensch ist angesichts undurchschaubarer "Verhältnisse", vordergründiger Inszenierungen und der Beliebigkeit von politischen Programmen je in der Lage, eine rationale Entscheidung für eine bessere Politik zu treffen.
Medial verabreichte Politik fördert Selbstverständnis und Gemeinschaftsgeist von Gesellschaften vor allem dadurch, dass sich strukturelle Probleme zum Theater handelnder Menschen verwandeln, das wir mit Empathie, Zynismus, Schadenfreude oder Widerwillen emotional besetzen, bis wir schließlich die Lust daran verlieren und die Komparsen auswechseln. Denn die Abwahl von Regierungsparteien ist kein demokratischer Befreiungsschlag, keine Einsicht in neue Problemlösungen, kein Glaube an die Besiegbarkeit der Korruption, sondern die mediale Geste des zappenden Zeitgenossen, der sich satt an den dramatis personae gesehen hat, die Feierabend-Serie wechselt, um seinen grundrechtlichen Anspruch auf informationelle Selbsterheiterung zu variieren.
Rhetorik der Tat
Ehrlich wären Politiker nur, wenn sie einräumen würden, weder genau zu wissen, was zu tun ist, noch welche konkreten Folgen ihr Handeln hat. Eine solche geständige Politik jenseits des Machbarkeitsfantasmas, das Wähler belustigt, apathisch oder verschwörungstheoretisch stimmt, können sich Politiker schon deshalb nicht leisten, weil damit Politik als Steuerungskunst ihren Offenbarungseid erklären würde. Kein geringer Teil des Demokratiespiels würde sich als hochbezahlte Farce outen, die nach den allgemeinem Geschäftsbedingungen des Gesellschaftsvertrags, den wir nie unterzeichnet haben, nicht vorgesehen ist.
Erheblich wichtiger als die Frage, was denn mit oder ohne Hartz-Kommission zu tun wäre, ist doch die aktivistische Beschwichtigung unserer Zukunftsängste im Wissen, dass überhaupt etwas getan wird. Wir sind Politikern also leidlich dadurch verbunden, dass sie handeln, demgegenüber es eine kleinliche bis wichtigtuerische Geste des Wählers wäre, darin auch noch auf ein zweckrationales Handlungswissen auf dem Weg in eine bessere Zukunft zu hoffen.
"Wir müssen heraus aus dieser fatalen Schlusslichtposition. Deutschland muss in die Reformoffensive - es ist Zeit für Taten!", meinen Kanzlerkandidat Edmund Stoiber und seine Mannen. "Reformoffensive" ist kein Begriff mit einem politikfähigen Bedeutungsgehalt, sondern eine Programmhülse, die sich selbst bestreitet - in dieser und jener Wortbedeutung. So stellt Stoiber sein Wahlprogramm vor, das nur den Schluss erlaubt, dass uns die säumige Schröder-Regierung vier Jahre lang verschaukelt hat, ohne Taten zu vollbringen. Angela Merkel ist rhetorisch auch eine zu allem entschlossene politische Mehrfachtäterin: "Es gibt viel zu tun. Packen wir's an." Tuwat? Nun gut, so ernst ist das nicht gemeint, weil Stoiber zugleich weiß: "Die entscheidenden Reformen können wir nicht mit Brachialgewalt durchsetzen, weil wir sonst nicht alle Bürger mitnehmen."
Im großen Reformomnibus "Endstation Zukunft" soll jeder seinen Platz finden, aber diese großzügige Transportmetapher eiert schon deshalb so vor sich hin, weil die Wähler noch nie in einem Boot respektive Bus saßen. "Volksparteien" sind ein Selbstwiderspruch, weil eine Partei nie Partei für das Volk ergreifen kann, weil sie eben dann keine Partei wäre, sondern das Volk respektive Parlament selbst. Trau also keiner Partei jenseits der 17%, weil meine oder deine oder Lina Braakes Interessen nicht die Interessen des Volks sein können. Politische Universalrezepturen für das ganze "Volk" sind Packungsbeilagen für Medikamente, deren Nebenwirkungen und Unverträglichkeiten unter keinen Umständen bekannt werden dürfen.
Der SPD, die nach der CDU untätig war, ist wenigstens jetzt zum legislatorischen Endspurt hin wieder tatendurstig. Auf zwei Seiten eines Boulevard-Blatts plädiert sie unter dem Bild des hart arbeitenden Kanzlers für soziale Gerechtigkeit - auch nach dem Wahlkampf! Immerhin ist die Reflexion dieser demokratischen Zäsur zwischen zwei Legislaturperioden nicht ohne selbstverräterischen Charme. Bedeutung hätte dieses Versprechen allerdings nur, wenn es Parteien gäbe, die gegen soziale Gerechtigkeit sind. Denn anders könnte auch diese Wahlkampfaussage uns zu keiner Entscheidung beflügeln, mit unserer starken Wählerstimme die Feinde sozialer Gerechtigkeit diesmal von der Macht fern zu halten.
Soziale Gerechtigkeit kann Politik indes schon deshalb nicht sinnvoll propagieren, weil dieser allumfassende Zustand nur von der Gesellschaft selbst herstellbar wäre und nicht lediglich von einer ihrer Unterabteilungen, dem nicht zuletzt um sich selbst kreisenden Politikbetrieb. Eine seriöse und praktische Definition, was denn soziale Gerechtigkeit sei, setzt bereits eine politische Entscheidung voraus, die eben in den Augen anderer gerade dieses Ideal verfehlen muss. Denn eine echte Demokratie basiert mindestens so sehr auf dem Dissens der Beteiligten wie auf dem Konsens und soziale Gerechtigkeit bleibt das Dissensthema par exellence, ohne dafür die Geschichte sozialer Kämpfe der letzten Jahrhunderte nacherzählen zu müssen.
Naturkraft Grün
Auch die Grünen sind von der Machbarkeit der Verhältnisse erfüllt, nur dass es sich bei "Grün" längst nicht mehr nur um eine Partei, sondern um einen politischen Superwirkstoff handelt, der über die Fehlsamkeit von Einzelakteuren weit hinausgeht: "Grün wirkt." Der Slogan ist fast unheimlich, suggeriert er doch, dass es nicht mehr Sache von Politikern oder Wählern ist zu entscheiden, was die widrigen Verhältnisse mit neuer Hoffnung durchtränken soll. Letztlich muss man Grüne gar nicht mehr wählen, weil "Grün" eben wirkt - gemäß einer gleichsam biologistischen Geschichtstheorie aus dem zwangsoptimistischen Geist des Politikdesign-Studios. Klar, die realpolitischen Enttäuschungen einer Partei, die mit der Natur im Bunde steht und doch auf "Friedenseinsätze" getrimmt wird, beseelen unser Mitgefühl, ohne darin bereits den letzten Impuls zur Stimmabgabe zu spüren.
Immerhin, die geheimnisvolle Naturkraft "Grün", diese politische Fotosynthese natürlichen Wachstums, soll uns richtig high machen. Anders als bei dem folgenschweren Appell des Ex-Bundespräsidenten Roman Herzog "Durch Deutschland muss ein Ruck gehen" wird durch die Kampagne der Grünen Jugend "Durch Deutschland muss ein Joint gehen" wenigstens konkretisiert, von welchen immergrünen Wirkstoffen die Grünen reden. Und auf diesen Schelm noch anderthalben obendrauf: Brüder, durch Sonne zur Arbeit.
Dieser postsozialistisch anbiedernde Spruch soll die längst abhanden gekommene Aufbruchstimmung zurückerobern, dass uns nur ja die Sonne richtig scheinen möge, um Arbeitsplätze und alles andere Gute zu wirklich werden zu lassen. Doch diese Öko-Logik fröhlichen Schaffens riecht so muffig nach grüner Gründerzeit, dass man sich zugleich einen mehrfachen Sonnenschutzfaktor wünscht, um nicht als "Bruder" verwechselt zu werden, der den Trick der Umwandlung von Sonnenenergie in Arbeit - auch unter großzügiger Vernachlässigung der Produktionsbedingungen in Massengesellschaften - wirklich verstehen möchte.
Enttäuschungsresistene Ehrlichkeit
Die einzig ehrliche Partei dieses Wahlkampfs ist die FDP, obwohl nun zu viel Ehrlichkeit unsere heimliche Lust auf zukünftige Korruptionsskandale enttäuschen könnte. Wer lediglich 18% will und primär dafür antritt, führt den Wähler nicht umständlich hinters Licht programmatischer Aussagen, die keine sind.
Nichts, außer der Stimmenverteilung im Bundestag wird anders, wenn die FDP 18 % der Stimmen einheimst, aber dafür ist dieses Wahlkampfziel im Fall des Erfolgs wenigstens absolut enttäuschungsresistent. Allein hiervon könnte die "Ich-AG" Schröder noch ein wenig lernen, weil der Kanzler sein televisionäres Strahlen angelegentlich noch durch politische Aussagen unterbricht, die sein medienbuddhistisches Profil doch längst nicht mehr nötig hat.
Unser Wahlprüfstein wäre das Eingeständnis von Politikern, aus Gründen des privaten wie parteilichen Machterhalts und ihrer Zuständigkeitsverluste in Zeiten der Globalisierung maßgeblich nur das bewirken zu können, was - tautologisch gesprochen - bewirkt werden kann. Also nicht viel! Wenn dann auf der zweiten Brennstufe des politischen Unterhaltungsprogramms die Spaßwerte des skandalorientierten Moraltheaters nicht zu kurz kämen, ja dann, wählen wir euch auch diesmal wieder alle. Und darauf einen Hunzinger ...