Regierungskrise in Schweden: "Nato-Traum bringt Kritik an Türkei zum Schweigen"

Unabhängig und prinzipienfest: Die Abgeordnete Amineh Kakabaveh will keinen Nato-Beitritt um jeden Preis. Foto: Per Pettersson / CC-BY-2.0

Erdogans Forderungen zwingen das nordische Land, für den Nato-Beitritt Werte infrage zu stellen, auf die es bisher stolz war

Der Nato-Beitritt von Schweden und Finnland läuft nicht so glatt wie erhofft. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan blockiert und stellt Forderungen, insbesondere an Schweden. Das Szenario entlarvt zum einen die doppelten Maßstäbe der Nato.

Für Schweden kommt es innenpolitisch außerdem höchst ungelegen, denn die Regierung von Magdalena Andersson steht vor der nächsten Krise – nur drei Monate vor der Wahl. Am Dienstag soll über ein Misstrauensvotum gegen Justizminister Morgan Johansson abgestimmt werden. Welche Unterstützung er noch bekommt, hängt von der Stimme einer unabhängigen Abgeordneten ab, die für die Kurden kämpft.

"Ich will nicht meine Tochter in die Türkei schicken, um dort Kurden zu ermorden" - so wurde die Nato-Gegnerin Nooshi Dadgostar, Vorsitzende der schwedischen Linkspartei, im April zitiert. Befürworter des Nato-Beitritts warfen ihr vor, mit falschen Behauptungen Stimmung zu machen. Auch als Nato-Mitglied sei Schweden nicht gezwungen, in irgendeiner Form Erdogans Aktionen zu unterstützen.

Doch die kurdische Frage hat Schweden schneller als erwartet eingeholt. Erdogan fordert die Auslieferung von Kurdinnen und Kurden, ein Ende der "Unterstützung von Terroristen" und eine Aufhebung des Waffenembargos gegen die Türkei, das in Schweden gilt, seit er 2019 Truppen ins syrisch-kurdische Selbstverwaltungsgebiet einmarschieren ließ. Dieselben Forderungen gingen an Finnland.

Allerdings besteht der Hauptkonflikt zwischen der Türkei und Schweden – Finnland sei dabei eher eine "Geisel", so drückte es der schwedische Experte für Türkeistudien, Paul Levin, aus. Schweden ist traditionell eine Freistatt kurdischer Dissidenten; und es leben etwa 150.000 Menschen kurdischer Herkunft im Land.

Angst um Aufenthaltsstatus in kurdischer Community

Auf Erdogans Wunschliste an Schweden und Finnland stehen insgesamt 33 Personen, darunter Schriftsteller, Medienschaffende und Aktivisten, die sich kritisch über das türkische Regime geäußert haben. Medien berichten, dass nicht nur unter diesen inzwischen die Angst umgeht – ändert Schweden seine Haltung, um Erdogan entgegenzukommen, könnten weit mehr Menschen kurdischer Herkunft ihren Aufenthaltsstatus verlieren.

Diese Furcht ist nicht unbegründet: "Der Nato-Traum bringt die Kritik an der Türkei zum Schweigen", stellte bereits Eric Rosén in Aftonbladet fest. Über Erdogans Forderungen verhandeln Schweden und Finnland nun, um "Unklarheiten" zu beseitigen.

So wird Schweden beschuldigt, "Terroristen" mit Geld zu unterstützen. Bei den genannten Summen handele es sich vermutlich um Unterstützung für den Wiederaufbau und Flüchtlinge in Nordsyrien, von dem auch die Kurden profitiert hätten, heißt es vom Außenministerium.

Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ist in Schweden und Finnland verboten. Während die Türkei die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) und deren bewaffnete Arme YPG und YPJ mit der PKK gleichsetzt, sind diese aber in den nordischen Ländern nicht verboten – und auch nicht in der EU oder in den USA.

Sie waren sogar gefeierte Helden im Widerstand gegen die Terrormliz "Islamischer Staat" (IS). Als dann das Nato-Mitglied Türkei unter Erdogan in die syrisch-kurdischen Gebiete einmarschierte, ließ man ihn bekanntlich gewähren. Einige Länder, darunter Schweden, Finnland und das Nato-Land Norwegen, stoppten danach aber Waffenexporte in die Türkei.

Eine Unabhängige als Machtfaktor

Schwedens Engagement für die kurdische Bevölkerung hat ein Gesicht: Amineh Kakabaveh, geboren 1970 im Iran und mit 13 Jahren Kindersoldatin bei den Peschmerga, Flucht nach Schweden, heute schwedische Staatsbürgerin und Aktivistin für Feminismus und gegen Rassismus. 2016 war sie "Schwedin des Jahres". Kakabaveh kam als Abgeordnete der schwedischen Linkspartei 2008 ins Parlament. 2019 trat sie wegen inhaltlicher Differenzen aus der Partei aus, blieb aber als Unabhängige im Riksdag.

Ihre (zusätzliche) Stimme sicherte Magdalena Andersson im Herbst die Wahl zur Ministerpräsidentin – eine Gegenstimme mehr, und Schweden hätte Extrawahlen ausrufen müssen, weil es für keine Seite zu einer Mehrheit reichte. Andersson hatte sich dies unter anderem mit Zusagen erkauft, die eine Zusammenarbeit der Sozialdemokraten mit der PYD im kurdisch-selbstverwalteten Rojava in Syrien beinhalten.

In der Vereinbarung zwischen den schwedischen Sozialdemokraten und Amineh Kakabaveh wird auf den Kampf gegen den IS hingewiesen und es heißt unter anderem:

Dass Freiheitskämpfer, die für YPG/YPJ oder PYD gekämpft oder mit ihnen sympathisiert haben, von gewissen staatlichen Akteuren als Terroristen klassifiziert werden, ist inakzeptabel.

Dieser staatliche Akteur ist natürlich die Türkei beziehungsweise Erdogan – und bis zum Stimmungswandel in Sachen Nato nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine gab es keinen Anlass, auf diesen Akteur Rücksicht zu nehmen.

An den knappen Mehrheitsverhältnissen im schwedischen Parlament hat sich seit November nichts geändert. Drei Monate vor der Wahl haben die Schwedendemokraten nun am vergangenen Donnerstag einen Misstrauensantrag gegen den sozialdemokratischen Justizminister Morgan Johansson gestellt, der seine Aufgabe, gegen Kriminalität und Gang-Gewalt vorzugehen, aus deren Sicht nicht erfüllt habe.

Die bürgerlichen Parteien (Moderate, Liberale, Christdemokraten) haben bereits erklärt, dieses Misstrauensvotum zu unterstützen. Um politisch zu überleben, benötigt die Regierung nun jede einzelne sonstige Stimme – auch die von Amineh Kakabaveh. Sie selbst sagte zunächst: "Ich habe verstanden, dass es kein guter Zeitpunkt für noch eine Regierungskrise ist."

Am Freitagabend stellte sie allerdings klar, dass sie auf die Einhaltung des Abkommens besteht und auch keine weiteren Terror-Einstufungen von kurdischen Gruppierungen nach Erdogans Wünschen sehen möchte:

Schweden soll den Antrag auf Aufnahme in die Nato zurückziehen, wenn das davon abhängt, dass wir feige still sitzen und Erdogans Forderungen nachgeben.


Amineh Kakabaveh, unabhängige Abgeordnete

Damit ist klar, dass Magdalena Andersson nun zwischen dem Fortbestand ihrer Regierung und einem Erdogan-freundlicheren Kurs wählen kann.

Die Realität der Nato

Dass Schweden und Finnland Anträge auf Mitgliedschaft in der Nato gestellt haben, ist ein propangandistisch sehr wirksamer Erfolg für das Militärbündnis. Dass der Aufnahmeprozess nun ausgerechnet wegen Erdogan stockt, zeigt nur die Realität der Nato, die keineswegs ein Bündnis mit gleichen Werten ist und mit zweierlei Maß misst.

Erdogan hat einen Punkt: Warum sollte er der Aufnahme von zwei Ländern in ein gemeinsames Verteidigungsbündnis zustimmen, die ihm so weit misstrauen, dass sie ihm keine Waffen verkaufen wollen?

Dabei geht es allerdings eher um Symbolik als um echte Geschäfte. Inwieweit es bei der Blockade tatsächlich um Schweden und Finnland geht oder doch nur um Machtpoker, um sich Vorteile anderswo zu verschaffen, lässt sich schwer durchschauen. Nach allen völkerrechtlichen Kriterien haben die türkischen Truppen in Syrien aber genauso wenig zu suchen wie die russischen in der Ukraine (oder us-amerikanische im Irak).

Nach außen geht der Prozess der Annäherung an die Nato weiter – zuletzt mit dem Besuch von Nato-Schiffen in Stockholm und Helsinki und gemeinsamen Manövern. Der finnische Außenminister Pekka Haavisto ist aber nicht mehr sicher, ob es noch vor Jahresende wirklich klappt. Die Gespräche würden nun, in enger Abstimmung mit Schweden, von den Beamten weitergeführt. Haavisto bewarb Durchhaltevermögen, gute Nerven und stille Diplomatie.

"Dann ist etwas an der Nato falsch – nicht an uns"

Im Nachbarland gibt es stattdessen den großen Krach. Das Misstrauensvotum gegen Morgan Johansson hat zwar inhaltlich nichts mit der Nato und auch nicht mit den Kurden zu tun. Verknüpft sind diese Fragen nun aber aufgrund der knappen Mehrheitsverhältnisse, die Kakabaveh zum entscheidenden Zünglein an der Waage machen.

Sollte es mit dem Nato-Traum wegen Erdogan so schnell nichts werden, gibt es zumindest in Schweden einige, die darüber nicht traurig sein werden. Der schwedisch-kurdische Debatteur Kurdo Baksi fasste es so zusammen: "Müssen wir Meinungsfreiheit, Demokratie, Gleichberechtigung und die Pressefreiheitsgesetze von 1766 aufgeben, dann sollten wir nicht Nato-Mitglied werden. Dann ist etwas an der Nato falsch – nicht an uns."

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