Reich und unglücklich

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Große Erwartungen: Baz Luhrmann's "Der Große Gatsby" ist der Film zum Soundtrack

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In fast schwarzweißem Stummfilm-Sepia, grobkörnig und flach, sind die ersten Vorspann-Bilder, dann öffnet sich die Leinwand und es geht in die Tiefe, durch Novembernebel und Schneeflocken hindurch auf ein einsames Grünes Licht zu. Die Farbe Grün ist zwielichtig und giftig, aber auch eine Farbe der Verheißung im Roman wie in dessen jetziger neuer Verfilmung. Denn Grün ist das Licht an dem Landungssteg der großzügigen Villa, in der Daisy Buchanan lebt, die Frau, der die Sehnsucht von Jay Gatsby gilt. Sie ist seine große, verlorene Liebe und er ist fest entschlossen, sie zurückzugewinnen.

"The Great Gatsby", der 1925 erschienene berühmte Roman von Francis Scott Fitzgerald (1896-1940), taucht heute einigermaßen überraschend auf Listen der besten Romane des 20. Jahrhunderts direkt neben Werken wie James Joyce' "Ulysses", Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" oder Robert Musils "Der Mann ohne Eigenschaften" auf.

Die Obszönität der Krisen-Gewinner

Der "Gatsby" ist sehr vieles auf einmal: In jedem Fall ein ein schillerndes Soziogramm der "Roaring Twenties", des "Jazz-Zeitalters" der Goldenen Zwanziger. Darin ist er dann zugleich eine Sozialstudie über zwei gesellschaftliche Aufsteiger in die reiche Oberklasse des Geldadels der US-Ostküste am Anfang des amerikanischen Jahrhunderts - neben Gatsby selbst auch Nick Carraway, der Erzähler, der gewissermaßen immer außen vor bleibt, die Beobachter-Perspektive behält.

Der Aufstieg scheitert, altes Geld siegt über neues und statt einen American Dream zu erleben, wird man Zeuge eines Alptraums. Das ist sehr amerikanisch und sehr konservativ zugleich in seiner Moral. Man könnte daraus offenkundig nun auch einen Film über das heutige Geld machen, über die Finanzkrise und die Obszönität ihrer Gewinner. Oder über die letzte Party ihrer Verlierer - dann wäre Gatsby ein Untergangsroman über das Ende der alten Welt, the "coloured empires" über die Daisy, die triste Siegerin am Ende spricht.

Dazu würde auch die Melancholie des Stoffes passen: Gatsby kann verstanden werden als reine Phantasie, als Tagtraum des Erzählers, der sich ähnlich hineinträumt in die Welt der Reichen und Glücklichen, Jungen und Schönen, wie Gatsby sein Leben mit Daisy phantasiert. Der Roman als doppelt verschränkte Sehnsuchtsstudie. Zugleich aber ist er ganz eine romantische Sehnsuchtsgeschichte, der Entwurf eines Gegenbildes zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Liebe gegen die Welt. Dieser Welt allerdings mag Gatsby trotz allem nicht entsagen - das kann er nicht, sagt die konservative Lesart.

Statt der blauen Blume ist er einem grünen Licht verfallen, das giftig über die Long Island Bay leuchtet. Darin klingt von auch noch der Ästhetizismus der Jahrhundertwende nach, die künstlichen Paradiese von Joris Huysmans und Oscar Wilde. Zugleich war der Roman aber bereits ein Abbild des Materialismus der neuen Zeit. Gatsby war der Neue Mensch des Kapitals: Äußerlich ein Sohn Gottes, mit Reichtümern überhäuft, doch innerlich leer und geschichtslos.

Und im Übrigen - auch das ist bezeichnend und erlaubt eine "linke" Lektüre des Buchs - ist er natürlich sozial ein Kind des organisierten Verbrechens, ein Profiteur der Prohibition und dabei abhängig von den schweren Jungs in Chicago und Philadelphia, die ihn zu unpassendsten Zeiten anrufen.

Typisches Zeitprodukt

Die Frage an jede Gatsby-Verfilmung darf also nicht lauten: Was ist Gatsby? Sondern: Was ist DIESER Gatsby? Viermal wurde dieses Buch bereits verfilmt. Und jede dieser jeweils grob alle 30 Jahre erschienenen Verfilmungen ist auch ein typisches Zeitprodukt: Der Stummfilm von 1926 ist eines der berühmtesten "verschollenen" Werke der Filmgeschichte.

Die große Studioverfilmung von 1949 ist brav und vergessen, ganz anders als Jack Claytons Film von 1974, der im Untergang des Gatsby auch den von Hollywoods großen Jahren spiegelt. Zugleich zeigt er mit Robert Redford und Mia Farrow zwei Stars des "New Hollywood". Dies war eine gewissermaßen existentialistische Darstellung eines Gatsby als "Gleichgültigen", "Fremden", einen todessehnsüchtigen Sisyphos des Kapitals, dessen ennui alles andere übermannt.

Auch die neueste Verfilmung durch den Australier Baz Luhrman ("Romeo & Juliet"; "Moulin Rouge") mit dem gestern die 66. Ausgabe der Filmfestspiele eröffnet wird, dürfte in 30 Jahren als typisches Zeitprodukt erscheinen: Einerseits glamouröses Starkino pur - Leonardo Di Caprio, Tobey Maguire und Carey Mulligan spielen die Hauptrollen -, andererseits ein innerlich kaltes, formal überhitztes Stilfeuerwerk, das von allem zuviel bietet und deswegen den Exzess der Menschen, um die es hier geht, blendend darstellt; Luhrmann passt perfekt zu diesem Roman.

Denn er ist ein Formkünstler mit einem eigenwilligen Stil von neobarocker Opulenz. Und äußerlich greift er in die Vollen: George Gershwins "Rhapsody in Blue" ertönt vor blauem Himmel zu einer grell-kunterbunten Party; sein "Gatsby" ist ein babylonisches Stilmischmasch, ein dekadent angehauchter Tanz auf dem Vulkan, der aussieht, als hätte Hieronymus Bosch nicht an Gott, Teufel und die Hölle geglaubt, sondern ein Wimmelbild aus dem Hier und Jetzt gemalt.

Schlierende Kameraschwenks in 3-D

Ein bisschen hohl tönt es allerdings zwischendurch schon, denn hinter all den mitunter comichaft überbetonten, grotesken Effekten, verschwindet das romantische Traumspiel, der bittersüßes Liebeszauberzuckerguß, verschwinden Ernst und Melancholie dieser Geschichte, die doch eigentlich verblüffend aktuell ist in ihrer Weltuntergangsstimmung. Auch Tobey Maguire als Erzähler Nick Carraway erscheint als krasse Fehlbesetzung: Dieser ewig Naive grinst sich durch den Film, läßt einen dauernd an Spider-Man in den Zwanziger Jahren denken und verstärkt noch den Eindruck Gatsby als Comic zu sehen.

Dafür überzeugen Carrey Mulligan als Sehnsuchtsgirl Daisy und Leonardo DiCaprio dessen Gatsby ein Getriebener ist, und auch ein trauriges Genie des Hedonismus, darin seinem Auftritt als "Aviator"-Multimillionär Howard Hughes recht ähnlich. Vor allem aber ist er ein Wütender, der von seinem Zorn, der zwar eine Todsünde ist, aber immerhin auch eine Leidenschaft, schließlich übermannt wird. Der Zorn reißt ihn und andere in den Abgrund.

So halten Licht und Schatten sich die Waage. Allerdings kommt man gar nicht richtig dazu, all die Schauwerte anzugucken, denn in punkto 3-D ist dieser Film wieder ein klarer Rückschritt gegenüber Martin Scorseses "Hugo Cabret". Gerade der Raumeffekt lässt hier alles um so flächiger wirken und die Schlieren der Kameraschwenks in 3-D hindern das Auge immer wieder daran, sich in den Bildern zu verlieren.

Aufgewogen wird dies durch den Soundtrack. Lana del Rays "Young and beautiful" dürfte das prominenteste Stück sein, daneben bietet Luhrmann alles auf, was teuer ist und nagelt jedes Bild mit Bombastklängen zwischen Disco und Classic zu; im Einzelnen oft eine Geschmacklosigkeit, wie sie einem zuletzt in den 1980er Jahren begegnete, im Ganzen dann in seiner Chuzpe aber wieder Camp.

So ist "The Great Gatsby" der Film zum Soundtrack und für Cannes so oder so ein passender Eröffnungsfilm, weil er in dekandenter Partylaune alle Facetten vereint, die an den kommenden zwölf Tagen diesen Treffpunkt des Weltkinos beschäftigen dürften. Wie von Cannes gewohnt, hat man insgesamt einmal mehr die Crème de la Crème der Filmszene für Weltpremieren an der südfranzösischen Riviera gewinnen können - Roman Polanski wird erwartet, die Coen-Brüder, aber auch die französischen Autorenfilmer Francois Ozon und Arnaud Deplechin.

Reich und unglücklich (20 Bilder)

Und als einzige Frau im Wettbewerb Valeria Bruni-Tedesci, die Schwester von der französischen Ex-First-Lady Carla Bruni. Eine weitere Premiere feiert der angeblich "letzte Film" von Stephen Soderbergh: Darin spielt Michael Douglas den schwulen Varietekünstler und Las-Vegas-Star Liberace. Und in den Nebenreihen laufen dann alle Frauen, die man im Wettbewerb nicht haben wollte, etwa die neuen Werke von Sofia Coppola, Claire Denis und dem französischen Shooting-Star Rebecca Zlotowski.