Rein in das Lagerdenken!
Für eine Konsenspolitik sind die Probleme, vor denen wir stehen, zu groß. Ein subjektiver Einwurf
Rüdiger Suchsland hat kürzlich an dieser Stelle in einem persönlich gefärbten Einwurf ein Votum für eine Ampelkoalition abgegeben und eine Abkehr vom Lagerdenken gefordert.
Es sei an der Zeit, die FDP als notwendige Kraft anzuerkennen, vor der die Industrie keine Angst habe. Die Liberalen werden als eine Art Wegbereiter für einen wirtschaftspolitischen Dialog begriffen, die den (klima-)ideologisch verschlungenen Weg begradigen soll. Dieses Argument funktioniert allerdings nur, weil der Text sich das politische Feld mit einigen problematischen Manövern zurechtlegt und wichtige Aspekte ausklammert.
Bereits die Kritik am Lagerdenken unterläuft sich selbst, weil sie aus eben einem solchen Lagerdenken entspringt. Das Setzen auf die sozialliberale Option ist implizite Kritik an linken Positionen und beschwört zumindest implizit das ewige Klischee der Grünen als Verbotspartei herbei. Die Leichtigkeit, mit der sich der Beitrag darüber hinaus der Linkspartei entledigt, ohne dafür konkrete Gründe anzugeben, legt die politischen Koordinaten mehr als offen; die Linke wird abgelehnt. Punkt.
Wie dem auch sei. Der Text befürchtet bei einer Rot-Grün-Roten-Regierung jedenfalls eine Blockade jedweder politischen Handlungsfähigkeit:
Jede zukünftige "Lagerregierung" wäre zwangsläufig auch einer recht kompromisslosen "Lageropposition" ausgesetzt. Die gegenwärtige Rote-Socken-Kampagne der Union, so muffig und unwirksam sie auch daherkommt, gibt darauf einen Vorgeschmack. Wollen wir vier solche Jahre?
Raus aus dem Lagerdenken!
Es drängt sich als grundsätzliche Gegenfrage auf: Ist das nicht Demokratie? Es wird immer eine Opposition geben, die sich der Regierung entgegenstellt und mitunter Vorhaben blockieren möchte. Will man eine auf Dauer gestellte Rote-Socken-Kampagne? Es ist schlichtweg egal. Ein solcher Dissens macht Politik in ihrer derzeitigen Verfasstheit aus.
Für eine Konsenspolitik sind die Probleme, vor denen wir stehen, zu groß. Und es geht dabei nicht nur um die Klimakrise. Auf dem Zettel ungelöster Probleme steht auch die zunehmende soziale Ungleichheit, der außer Kontrolle geratene Wohnungsmarkt und die verschleppte Digitalisierung.
Nimmt man die Klimakrise hinzu, so bleibt nur ein radikales Umdenken des gesamtgesellschaftlichen Handelns. Sicher, dies muss vermittelt werden. So oder so wird ein derart notwendiger Bruch mit dem Status quo zu massiven Auseinandersetzungen führen. Die mit dem Wandel einhergehenden Umverteilungen werden nicht ohne Widerstände vonstattengehen. Aber auch hier gilt: Das ist nun mal Politik. Es ist nicht immer angenehm.
Lagerbildung? Aber bitte doch!
Dieser Wahlkampf wäre die Chance für einen ehrlichen und radikalen Lagerwahlkampf gewesen. Die Front gegenüber den Liberalen und der Union hätte noch wesentlich schärfer gezogen werden müssen.
Gemeinsam hätten SPD, die Grünen und die Linkspartei eine Vision entwerfen und den Wähler:innen eine Orientierung geben können: Liebe Wähler, wenn wir die Mehrheit der Stimmen erhalten, dann erwartet euch folgende Politik. Man hätte eine Art Koalitionsvorvertrag schließen können.
Stattdessen kämpfte jeder für sein kleines Parteilager. Die Folgen konnten wir von Lanz bis Illner beobachten. Halbherzige Abgrenzungen und verstolperte Annäherungen an ein Mitte-Links-Bündnis. Wenn antidemokratische Kräfte wie die AfD gestärkt werden, dann durch solche machtstrategischen Manöver. Die Menschen verlieren den Glauben an den Wert ihrer Stimmen.
Gerade die jüngere Generation, vor deren Augen sich noch eine breite Zukunft erstreckt, erwartet eine Politik, die Probleme klar benennt und tragfähige Lösungsvorschläge glaubhaft zur Wahl stellt. Angesichts der Zersplitterung der Parteienlandschaft ist dies nur durch einen Lagerwahlkampf zu verwirklichen. Aber der Wahlkampf ist nun mal anders verlaufen.
Ein falsches Bild der Industrie
Der Text "Raus aus dem Lagerdenken!" malt den Teufel der Blockade an die Wand, um dann als Lösung eine Regierungsbeteiligung der FDP aus dem Hut zu zaubern. Da wäre es wieder, das Gespenst von den Verbotsparteien, die durch ihre ordnungspolitischen Eingriffe der Wirtschaft das Leben schwer machen. Es wird nämlich nicht bloß eine politische Opposition gefürchtet. Vielmehr wird im Text davon ausgegangen, dass sich Industrie und Kapital einer produktiven Zusammenarbeit mit einer rot-grünen Regierung verweigern würden:
Wenn es nämlich etwas werden soll mit einer tatsächlich wirksamen und nicht nur rhetorischen Klimapolitik und einer tatsächlich wirksamen Digitalisierung der Republik, dann braucht jede Regierung auch Mitglieder, die von der Industrie und "dem Kapital" nicht als Feinde gesehen werden. Ich kann nicht erkennen, wie dies ohne die FDP für ein rot-grünes oder gar rot-rot-grünes Bündnis möglich wäre.
Raus aus dem Lagerdenken!
Absehen von all den anderen Dingen, von denen hier abgesehen wird, ist das Bild der Industrie und des Kapitals in mehrfacher Hinsicht problematisch. Man mag von der grün-schwarzen Landesregierung in Baden-Württemberg halten, was man will. Eine Industrieferne kann man diesem Bündnis sicherlich nicht vorwerfen, was nun wirklich nicht einzig und allein an der CDU liegt. Winfried Kretschmann ist immer noch bei den Grünen. So fair sollte man schon bleiben.
Außerdem findet in vielen Industriezweigen bereits ein Umdenken statt, noch bevor es überhaupt zu einer tiefgreifenden politischen Entscheidung gekommen ist. Über die Sinnhaftigkeit einzelner Maßnahmen muss an anderer Stelle diskutiert werden. Gerade Greenwashing ist ein großer Stolperstein auf dem Weg zu einer wirklich nachhaltigen Gesellschaft.
In ihrer Hinwendung zur Elektromobilität scheint bei den Autobauern zumindest Bewegung in die Sache gekommen zu sein. Auch die Bekleidungsindustrie arbeitet mehr oder weniger erfolgreich an einer Verbesserung bei der Auswahl nachhaltigerer Fasern und ihrer Produktionsbedingungen insgesamt. Formulieren wir es doch so: Im Markt ist durchaus ein ökologisches Erwachen zu vernehmen. Wieso sollte die Industrie also vor einer rot-grünen Regierung Angst haben?
Und dann wäre da noch eine postdemokratische Dimension, die der zitierten Argumentation innewohnt. Das in Anführungszeichen gesetzte Kapital deutet auf eine kapitale Leerstelle. Der Versuch, sich jegliche marxistische Semantik vom Hals zu halten, macht deutlich, dass an dieser Stelle Kräfte ganz anderer Art aus dem Text herausgehalten werden sollen.
Die Macht der Finanzökonomie
Wenn man das Kapital schon erwähnt, so muss doch klar ausgesprochen werden, was sich dahinter verbirgt. Auch im Wahlkampf sprechen die Parteien immer nur von der Industrie und zeichnen das Bild von einer leistungsstarken Industrienation, die den Klimawandel mittels brillanter Ingenieurskunst abzuwenden vermag. Doch jenseits dieser Industrie und durch sie hindurch wirkt die Finanzökonomie, die in ihrer Wirkmächtigkeit durchaus als "finanzökonomisches Regime" bezeichnet werden kann.
Dieses Regime hat die Regierungen der Welt in die Mangel genommen und ist jederzeit in der Lage, demokratische Entscheidungen durch finanzpolitischen Druck auszuhebeln. Das hat Joseph Vogl in seinem Buch Kapital und Ressentiment detailliert dargelegt. Der Spielraum der demokratisch legitimierten Handlungsmacht wird seit Jahrzehnten von einem deregulierten Markt der Spekulation unterspült, der die marxistische Bezeichnung "Kapital" durchaus verdient.
Frei von jeglicher Moral gilt der globalen Finanzmacht das ewige Wachstum der Rendite als das ultimative Ziel. Immerhin wird hier nur mit Zahlen und algorithmischen Operationen hantiert. Vom Zusammenhang mit der Digitalisierung, das heißt vom Plattformkapitalismus und seiner alles durchdringenden Verführungskunst, soll hier nicht mal die Rede sein.
Wie wollen wir mit so einer parademokratischen Finanzmacht umgehen, die frei von jedem Gebrauchswert aus Geld Geld macht? Darin liegt doch der springende, aber vielfach totgeschwiegene Punkt bei der Mietpreisdebatte. Spekulationen, Handel mit Derivaten und ruchlose Ratingagenturen bestimmen heute in vielen Bereichen den Lauf der Dinge. Mit der FDP und ihrem ideologischen Lob des freien Marktes wird da nicht viel zu holen sein. Egal wie sehr man auf eine Besinnung auf eine bürgerrechtlich-liberale Tradition hofft, der Geist ist aus der Flasche und das Wahlprogramm der FDP spricht Bände.
Dies komplette Ausblendung der Wahlprogramme, die Suchslands Beitrag vornimmt, ist das problematischste Manöver. Es wird einzig und allein am Image der Parteien entlang argumentiert. Daraus ergibt sich auch die einseitige Verwendung des Lagerdenkens.
Wenn Wahlprogramme in diesen Zeiten noch irgendeinen Wert besitzen sollten, dann liegt es doch auf der Hand: Sollte es den Grünen und der SPD wirklich um eine Umsetzung ihrer Ziele gehen, dann müssen sie mit der Linkspartei koalieren. Alles andere käme einer politischen Farce gleich, die geradewegs in machtpolitisches Brachland eines falschen Lagerdenkens führt.
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