Reinrassige Identitätsprothese
Der Toro von Osborne ist ein Phänomen der Marketingwelt und in dieser Eigenschaft ein Schlüsselbaustein Spaniens als virtuelle Gemeinschaft
In den letzten Monaten ist vielfältig über das kollektive Gedächtnis Spaniens diskutiert worden. In Berlin, München und Barcelona fanden diverse Symposien, Filmreihen und Ausstellungen statt, die das Erinnern als gesellschaftliche Aufgabe in das Zentrum der Betrachtung gerückt und damit eine neue Auseinandersetzung mit der jüngeren Vergangenheit der iberischen Nation angestoßen haben. Ein Phänomen ist dabei übersehen worden und das, obwohl es in letzter Zeit wieder für heiße Debatten gesorgt hat und eine Menge über die Mechanismen des kollektiven Speicherns und Abrufens von Geschichte aussagt: der Stier von Osborne.
Der Stierkampf mag heute eher mit dem traditionellen Spanien in Verbindung gebracht werden. Doch ist er mehr als ein folkloristischer Überrest der Geschichte. Seine Befürworter und Fans sprechen immer wieder von seinem Symbolgehalt durch den Sieg des Menschen über die Natur. Und so gilt die Stierkampfarena - ähnlich wie das Fußballstadion - als eine Bühne der spanischen Gesellschaft, auf der die fiesta nacional immer wieder neu aufgeführt wird. Bereits unter Franco wurde der Stierkampf zur Identitätsfindung Spaniens instrumentalisiert und avancierte im Zuge dessen zu einem Aushängeschild der iberischen Nation.
Bis heute sind der Stier und Spanien engstens miteinander verwoben im kollektiven Bewusstsein. So kommt die Kulturkritik nicht umhin, diesen Konnex in ihre Agenda aufzunehmen. Juan Goytisolo hat in seinem legendären Buch „Spanien und die Spanier“ eine Entmystifizierung des mit dem Stier verknüpften Spanienbildes angeregt, doch die Rolle von Osborne in diesem Zusammenhang ist von Intellektuellen und Wissenschaftlern gleichermaßen vernachlässigt worden. Auch die gegenwärtige Debatte um das kollektive Speichern und Abrufen der spanischen Geschichte hat den symbolischen Beitrag des Brandy-Herstellers unberücksichtigt gelassen.
Ein Produkt der Franco-Ära
In der Franco-Ära begann der Alkoholhersteller Osborne den Stier als Firmenikone zu benutzen. 1957 entwarf der spanische Designer Manolo Prieto im Firmenauftrag das schwarze Logo, das nicht nur die Flaschen des Osborne-Brandys „Veterano“ schmücken, sondern bald auch im ganzen Land als gigantischer Werbeständer errichtet werden sollte. Heute noch erinnern sich in die Jahre gekommene Spanier daran, wie der „Toro“ überall aufzutauchen begann; wie lange Autobahnfahrten durch die ausgedörrten Regionen des Inlands überraschende Begegnungen mit sich brachten: Stand da jetzt tatsächlich ein Stier am Horizont?
Die gigantischen Werbeflächen in der Form des schwarzen Stierlogos haben immer wieder für Verwirrung gesorgt, aber auch einige Menschen reich gemacht. Osborne erwies sich in vielen Fällen als großzügiger Spender, wenn es darum ging, den Stier auf Privatgrundstücken innerhalb der Stadt aufzustellen. Familiengärten wurden angemietet, aber auch Bereiche des öffentlichen Raums. Nachdem die 1980er Jahre von Slogans wie „Pura Casta“ (Reinrassig) geprägt waren, geriet der Stier kurz nach seinem dreißigsten Geburtstag in die Krise. Wurde Gegenstand einer öffentlichen Debatte, eine Zielscheibe für Kritik. Sollte Werbung im öffentlichen Raum erlaubt sein? Und wenn ja, was waren dann die vertretbaren Formen? Die Ära des Osborne-Stiers schien zu Ende als ein neuer Gesetzesentwurf verhandelt wurde.
Die Debatten um den Stier von Osborne als Bestandteil der spanischen Kultur multiplizierten sich, als das Gesetz 1994 in Kraft treten sollte. Landesweite Proteste und Initiativen, sowie die Forderung nach „Begnadigung“ führten dazu, dass über eine Sonderregelung für den Stier von Osborne beraten wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich längst eingebrannt in das kollektive Gedächtnis; war kaum mehr zu trennen von der spanischen Nationalikone: Ist sie eigentlich von Osborne erfunden worden oder hatte die Firma der Vorstellung einfach nur eine wiedererkennbare Form gegeben? War das spanische Nationalsymbol von Osborne vereinnahmt worden oder hatte die Firma die Bedeutung des Stiers mit ihrer gigantischen Werbeoffensive überhaupt erst geprägt?
„Die Magie des Stiers“
Spätestens in den 1990er Jahren begann sich eine gigantische Industrie um die Ikone abzuzeichnen. T-Shirts, Flaggen und Postkarten mit dem Osborne-Stier sind Dauerbrenner. Die Merchandise-Maschine läuft bis heute auf vollen Touren und der Stier schmückt immer noch die spanische Landschaft. Seine Verbreitung hat sogar zugenommen. Er ist mittlerweile in allen Regionen vertreten. Auf der Homepage des Alkoholherstellers findet sich eine Karte von Spanien, auf der die einzelnen Locations abgesteckt sind, Adresse inklusive! Als der Stier aufhörte, explizit Werbung zu machen für Alkohol – die Slogans und Schriftzüge auf seinem Körper mussten entfernt werden, das neue Gesetz machte ihn zu einer schwarzen Silhouette –, wurde er zu einer eigenständigen Ikone, losgelöst von den unmittelbaren Sachzwängen der jeweiligen Kampagne. Er wurde in einen zeitlosen Raum der Zeichen entlassen und gewann in Folge dessen stetig an Popularität.
Als kurios muss anmuten, dass Osborne diese stierförmigen Planken nach wie vor produziert. Die Firma darf keine klassische Werbung mit dem Stier für Alkohol machen, sie hält mit ihrer kontinuierlichen Offensive in erster Linie einen Mythos am Leben. Unstrichen wird dies durch die Tatsache, dass Brandy in Spanien schon lange kein populäres Getränk mehr ist. Wer kauft den Osborne-Brandy überhaupt noch? Mit der Kampagne „The Passion of Spain“ versuchte Osborne „einen modernen Touch in die internationalen Märkte und das Image des spanischen Brandys“ zu bringen. Mit „Toro“ wurde darüber hinaus „ein neuer Brandy in Spanien“ kreiert. Das offizielle Ziel des Herstellers besteht darin, mit diesem Produkt „den Genuss am Brandykonsum zu verjüngen“.
Solche verzweifelt anmutenden Offensiven des Herstellers, mit neuen Produktlinien Marktanteile zurückzugewinnen, und seine Versuche, die Jugend anzusprechen, sind symptomatisch dafür, dass Osborne längst irrelevant geworden ist. Im krassen Widerspruch zu der Position der Firma steht ihre aufwendige Imageproduktion. Wenn sich die Annahme bestätigt, im Spät-Kapitalismus seien die Akteure der Wirtschaft von der Warenproduktion zu der Produktion von Sinnbotschaften übergegangen, dann hier.
Dass Osborne trotz schwindender ökonomischer Macht am „Toro“ festhält, liegt vermutlich nicht zuletzt daran, dass sich der Stier in der Aufmerksamkeitsökonomie als Goldgrube erwiesen hat. Er ist ständig im Gespräch und ein immer wiederkehrender Gegenstand öffentlicher Kontroversen. Jugendbanden haben in ihm ein Angriffsziel für vandalistische Attacken gefunden. Der „Toro“ wird regelmäßig beschmutzt, niedergerissen, etc. Vorfälle, die für Schlagzeilen sorgen. Nicht selten sind solche Übergriffe politisch motiviert. Zentralismuskritik wird geübt, Faschismus-Vorwürde werden laut – bekanntlich dient die Nationalflagge mit Stieremblem als Symbol der Ultrarechten.
Wenn in Folge dessen Gründe bekannt werden, die mit der ideologischen Seite des Stiers zusammenhängen, wenn es heißt, er sei ein Relikt des Franquismus, dann rückt der Stier in das Zentrum von Diskussionen rund um die Hinterlassenschaft der Diktatur. Seit der Kontroverse über die Werbeflächen an Spaniens Straßen behauptet niemand mehr, „es ist doch nur ein Stier!“ Andalusien machte damals den ersten Schritt, ihn als „Monument“ anzuerkennen. Heute ist er als Kulturgut in ganz Spanien ebenso anerkannt wie umstritten. Vor diesem Hintergrund dürfte man eigentlich kaum umhinkommen, den „Toro“ von Osborne nicht als Fallbeispiel für die blinden Flecken der transicion und die Mechanismen der kollektiven Erinnerung heranzuziehen.