Reizlose Reizthemen

Christiansen & Co. talken immer seltener über Politik und auch Politiker meiden zunehmend die "politische Politik", weshalb es die "Post-Politik" schon zu einem Wikipedia-Eintrag gebracht hat

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„Aufschwung, Sonne, Knut - geht‘s uns wirklich wieder gut“, wollte Sabine Christiansen unlängst wissen und holte Antworten von Knuts Leibtierarzt, Gabriele Pauli und Sahra Wagenknecht ein. Auch die Sujets der Vorwochen entstammten zumeist der Rubrik „Vermischtes“. „Sterbehilfe“, „Scheidungsrecht“, „Familie“ und die in die Jahre kommende „Generation Rock ‘n‘ Roll“ standen unter anderem auf der Agenda. Kollege Frank Plasberg bezieht seinen Diskussionsstoff mit Vorliebe aus dem selben Ressort. „Kämpfen bis zur letzten Runde - was macht das Loslassen so schwer?“ lautete sein Reizthema am vierten April. Am 27. März befand sich „Deutschland in der Fressfalle“ und davor nahm sich der Moderator hart aber fair die „Wohlstandsjugend im Saufkoma“ zur Brust. Sogar der ehrwürdige „Presseclub“ machte sich unter der Fragestellung „Was läuft schief mit Deutschlands Jugend?“ Sorgen über die Heranwachsenden im Allgemeinen und schon bald darauf über deren Gewaltbereitschaft im Besonderen. Nicht weniger politikverdrossen gibt sich „Maischberger“, aber wenigstens zeigte Friedrich Nowottny als Gastmoderator schon Problembewusstsein, indem er über „Politik regiert - Volk frustriert“ talken ließ.

Auch das Hamburger Wochenblatt Die Zeit nahm sich den Trend über mehrere Seiten hinweg unter der Überschrift Das Volk hört weg vor. Im Printbereich zeichnen sich nämlich ähnliche Tendenzen ab, wobei „Die Zeit“ nicht selten Teil des Problems ist. Ihre Eyecatcher auf der Seite 1 haben nämlich nur noch sporadisch Politisches zum Gegenstand, lieber weisen sie auf Texte über Vorbilder, die richtige Schulwahl fürs Kind oder Religionen im Innenteil hin. Auch ihre Leitartikel befassen sich zunehmend mit Gott und der Welt. Selbst Qualitätszeitungen wie die „Frankfurter Rundschau“ und die „Süddeutsche Zeitung“ präsentieren auf ihren Titelfotos oft Boulevardeskes, während auflagenstarke Regionalzeitungen wie die „Rheinische Post“ mit Traktaten zu tricksenden Heizungsablesefirmen aufmachen. „Verschwindet die politische Öffentlichkeit?“, fragten deshalb die letztjährigen Hannah-Arendt-Tage nicht ohne Grund.

Politik ist offenbar schlecht für das Geschäft. Spätestens seit die großen Parteien sich zur Großen Koalition zusammengeschlossen haben und die großen Kontroversen ausbleiben, wird sie kleingeschrieben. Im Juli letzten Jahres sank Sabine Christiansen ins Quotentief und stürzte wenig später. Die Redaktion reagierte umgehend und griff für die Restlaufzeit vermehrt in den Kessel Buntes. Mit Erfolg: Im laufenden Jahr schalteten sogar mehr Zuschauer ein als noch zu rot-grünen Zeiten.

Maybrit Illner erlebte hingegen mit Gerhard Schröders Gasprom-Deal ihr Waterloo. Kein Wunder: Das war ja fast schon auswärtige Politik! Daran lag es aber ihrer Ansicht nach nicht, das Thema überschritt einfach nur den Erfahrungshorizont der Menschen allzusehr. Das Politische und das Private müssen eins sein - dann geht‘s. Die Talkmasterin meint, „dass die Leute zuschauen, wenn sie selbst betroffen sind“, und debattiert wacker weiter über die RAF, das Klima, die Altersarmut oder Hungerlöhne. „Die große Koalition ist kein Friedhof der Kuscheltiere“, ist Illner überzeugt und versucht daher lieber, mit einer lebendigeren, an „Hart aber fair“ angelehnten Präsentation die Attraktivität des Formats zu erhöhen.

Die „Zeit“ blickt auf der Suche nach Gründen für die relative Funkstille über die Große Koalition hinaus. „Seit dem Mauerfall hat sich das Land ideologisch fast komplett entladen“, konstatierten Matthias Geis und Bernd Ulrich unlängst und lieferten damit unfreiwillig auch gleich eine Erklärung dafür, warum auf der Titelseite der selbigen Ausgabe Richard Gere und der Dalai Lama großflächig ein Dossier zum Buddhismus anpreisen und der Leitartikel sich Computerspielen widmet. Heutzutage gebe es nur noch „hochgejazzte Nachhutgefechte“, so lautet das Resümee der beiden Autoren.

Parteisoldaten sind da nicht mehr gefragt. Die Post-Politik braucht Post-Politiker. Der französische Präsidentschaftskandidat François Bayrou hat das verstanden. Er verzichtete in seinem Wahlkampf auf das, was er die „politische Politik“ nennt, sprach lieber über die Alltagsnöte seiner Landsleute und schaffte es als Außenseiter auf diese Weise, in den Umfrageergebnissen zeitweilig fast zu Ségolène Royal und Nicolas Sarkozy aufzuschließen. Bayrou wollte die angeblich zwischen dem rechten und linken Lager herrschende „Apartheid“ aufheben und nahm sich dabei die bundesdeutsche Große Koalition zum Vorbild. Aber vorerst war die Zeit noch nicht reif dafür. Die Franzosen folgten offensichtlich dem von „Le Monde“ ausgegebenen „demokratischen Imperativ“, das Links/Rechts-Schema nicht aufzugeben, weil das Stillstand bedeuten würde, und zeigten sich wenig wahl- und diskursmüde.

„Zum Regieren brauche ich nur BILD, BamS und Glotze“

Anders die Deutschen am selben Wochenende. Bei der Kommunalwahl in Sachsen-Anhalt betrug die Wahlbeteiligung nur 36,5 Prozent und sank damit auf einen historischen Tiefstand. „Eine mittlere Katastrophe“ nannte das der sachsen-anhaltinische Innenminister Holger Hövelmann (SPD). Die Menschen wenden sich „von der institutionalisierten Politik“ ab, konstatierte der Linksparteiler Wulf Gallert. Und der Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse wusste auch, wo sie landen: „Da entsteht so etwas wie eine Zuschauerdemokratie. Die Menschen meinen, nicht mehr mittun zu müssen.“

Bei der letzten Bundestagswahl spielten sie zwar noch in befriedigendem Umfang mit, wählten aber anders als ihre französischen Nachbarn den Stillstand. Entsprechend gut kommt die Post-Politik hierzulande an. So führt etwa die „Zeit“ die Beliebtheit Horst Köhlers gerade auf dessen mangelnde Betriebserfahrung zurück. Diese kann sich auch ihr Herausgeber Michael Naumann zugute halten. Deshalb schickt er sich an, die Seiten zu wechseln und den Quereinstieg zum Bürgermeisteramt zu versuchen, um den offensichtlich betriebsblinden Hamburger Sozialdemokraten aus der Patsche zu helfen.

Deren Krise ist ebenfalls ein Symptom der Post-Politik, denn wenn der politische Gegner keine Angriffsflächen mehr bietet, dann nimmt man sich eben die eigenen Genossen vor. Nicht nur in der Hansestadt und in Bayern mit der Pauli-Posse passierte dies. In Düsseldorf traten in einer Kampfabstimmung zwei Sozis zur Wahl des Fraktionsvorsitzenden an, was den Umweltstaatssekretär Michael Müller schon an seinem Berufsstand zweifeln ließ. „Manchmal frage ich mich, ob man in dieser Zeit überhaupt noch Politik machen kann“, kam der SPDler ob der Provinzposse ins Grübeln. Das fragt sich Daniel Cohn-Bendit auch. Anlässlich der Oberbürgermeister-Wahl in Frankfurt zeigte sich der Politiker höchstselbst politikverdrossen und rief zum Boykott des Urnenganges auf. „Wir haben eine Krise der Politik“, stellte er daraufhin in einem Interview fest und schloss sich selbst ausdrücklich mit in diese Diagnose ein.

Es gibt sogar schon eine politische Theorie des Unpolitischen. Der britische Sozialwissenschaftler Colin Crouch lieferte sie 2004 mit seinem Buch „Post-Democracy“. Nach Crouch üben in der westlichen Welt ExpertInnen-Kommissionen und Lobbygruppen den entscheidenden Einfluss aus - der Rest ist PR. „Zum Regieren brauche ich nur BILD, BamS und Glotze“, beschrieb Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder dann auch einmal das Geschäft in der Zuschauerdemokratie. Entsprechend hoch ist bei Bundestagsdebatten üblicherweise der Leerstand im Parlament, eigentlich dem Symbol der Demokratie. Einige Zeit hieß es immer, „Christiansen“ habe dessen Funktion übernommen. Aber nach dem jüngsten Strukturwandel der Öffentlichkeit ward das hohe Haus auch dort kaum noch gesehen.