Religion ist Teil der Probleme unserer Zeit
Der Philosoph Hans Albert über Europa, Sozialismus, kritische Aufklärung und Religion
Hans Albert, prominentester Vertreter eines aufgeklärten Kritischen Rationalismus in Deutschland und Nemesis aller Relativismus-Anhänger, stand uns für ein Interview Rede und Antwort, das unter der Leitfrage nach der Zukunft Europas stand. Auf dem Europäischen Forum Alpbach in Tirol, direkt nach dem Krieg und noch im Jahr 1945 ins Leben gerufen als Stätte übernationalen intellektuellen Austauschs, ist Albert zum 58. Mal präsent, er ist auch noch Mitglied des Kuratoriums des Forums, auch wenn man dort, wie er sagt, "nicht mehr auf mich hört". Vor dem Hintergrund einer europäischen Wirtschaftskrise spricht der inzwischen 91-jährige Soziologe darüber, in welche Richtung Europa gehen sollte.
Herr Albert, wir treffen uns auf dem Europäischen Forum Alpbach in Tirol, an dem Sie seit über 50 Jahren teilnehmen. Verbinden Sie selbst etwas Besonderes mit der europäischen Idee?
Hans Albert: Dazu muss man wissen, dass die Veranstaltung zunächst Internationale Hochschulwochen hieß und erst später den heutigen Namen bekam. Der damalige Präsident, Otto Molden, hat dann die Politischen und die Wirtschaftsgespräche eingeführt. Molden wollte dann auch in jedem europäischen Staat eine Europäische Föderalistische Partei gründen und dann aus Europa einen föderalen Bundesstaat machen, wenn diese Partei erst einmal überall die Mehrheit hat. Natürlich eine völlig utopische Idee. Und mich wollte er zum Gauleiter von Köln machen.
Hätten Sie da zugesagt?
Hans Albert: Sicher nicht. Ich hatte keine Lust, Chef zu sein. Denn ich war ja im Krieg Offizier, und die Idee, dass ich Vorgesetzter von irgendjemandem sein sollte, war mir nachher zuwider.
Von solchen Utopien abgesehen stellt sich mir in Bezug auf Europa doch die Frage: Haben wir nicht heute viel zu wenig Mut?
Hans Albert: Das ist schon möglich, ja.
Wie können wir in Europa mutigere Ideen entwickeln?
Hans Albert: Zum Beispiel könnte man einen Bundesstaat aus Europa machen mit einem Präsidenten, der von der ganzen Bevölkerung gewählt würde. Das ist eine schöne Idee, aber eben auch utopisch. Das ist meines Erachtens heute nicht machbar.
Was wäre das Problem an einem Bundesstaat?
Hans Albert: Das scheitert praktisch an den politischen Verfassungen der Einzelstaaten. Die Einzelstaaten würden ihre Souveränität nicht aufgeben, dazu sind sie nicht bereit. Das heißt: die politische Klasse ist dazu nicht bereit. Die Bürger wären vielleicht dazu bereit. Dass die Merkel sich einem europäischen Bundespräsidenten unterordnet, das glaube ich nicht. Die würde die Idee jedenfalls unterminieren.
In welchem Bereich brauchen wir am dringendsten gute neue Ideen?
Hans Albert: Gute neue Ideen?
Oder gute alte Ideen.
Hans Albert: Na, zum Beispiel die Idee der sozialen Marktwirtschaft. Die sollte auf jeden Fall gegenüber dem heutigen Kapitalismus gefördert werden. Die Ideen der damaligen Freiburger Schule von Walter Eucken werden ja heutzutage teilweise noch vertreten - in der Wissenschaft zumindest. Aber sie haben sich faktisch in der Wirtschaft nicht durchgesetzt. Schon die Kartellgesetzgebung ist viel zu schwach gewesen. Meines Erachtens müsste man danach streben, diese Ideen der Freiburger Schule durchzusetzen, denn die sind total in Vergessenheit geraten - zumindest in der Politik.
Wie ließe sich das bewerkstelligen? Ist das eine Bildungsfrage?
Hans Albert: Nun, man könnte zum Beispiel das Fach Wirtschaftswissenschaften einführen als ein Fach, in dem jeder geprüft wird. Aber wenn dann die Frage auftaucht, wie die Lehrer in diesem Fach auszubilden seien, dann streiten sich natürlich die Richtungen.
Wäre Ihnen ein solcher wirtschaftlicher Aspekt wichtiger als zum Beispiel die Vermittlung einer kritisch-rationalistischen Grundhaltung, deren wichtigster Vertreter Sie ja immer noch sind? Sollte man ab der fünften Klasse Philosophie lehren?
Hans Albert: Dass man an der Schule Philosophie lehren sollte, finde ich sowieso richtig. Aber auch da ist die Frage, welcher politische Einfluss genommen würde. Da würde sich sicher der Habermas durchsetzen - der größte Philosoph aller Zeiten.
Das wäre sozusagen ein weiterer Beitrag zur Aufklärung, sprich: sicherzustellen, dass die Bürger tatsächlich in der Lage sind, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen.
Hans Albert: Sicher, und der Kritische Rationalismus ist auch durchaus eine Weiterführung der Aufklärung. Unter anderem wird darin ja auch Kant kritisiert. Kant hat sich zum Beispiel gegen den Atheismus geäußert, und zwar in ziemlich heftiger Weise. Das halte ich für inakzeptabel.
Ist es denn überhaupt möglich, jeden so weit aufzuklären, dass er mit der Kantschen Mündigkeit umgehen kann? Kann das für manche zu viel Freiheit sein?
Hans Albert: Das weiß ich nicht. Das ist natürlich ein Auftrag für die Bildungsinstitutionen. Aber man kann eben auch niemanden zwingen, meinetwegen auf die Volkshochschule zu gehen.
Wäre die Zurückweisung jeglicher Autorität, die Aufklärung und Kritischem Rationalismus ja gemein ist, dann nicht eines der wichtigsten Bildungsziele?
Hans Albert: Ja, natürlich.
Soziale Marktwirtschaft auch nur eine andere Form von Sozialismus
Da Sie den Atheismus erwähnt haben: Wären wir besser dran ohne theistische Religionen?
Hans Albert: Zumindest ohne die, die an einen allwissenden, allgütigen und allmächtigen Gott glauben. In diesem Widerspruch steckt das altbekannte Theodizee-Problem: Ein solcher Gott würde die Übel der Welt nicht zulassen.
Aber was ist das Problem daran, dass Menschen an Irrationales glauben?
Hans Albert: Solche Menschen treten unter Umständen für die Verfolgung Andersgläubiger ein. Zumindest war das in der Geschichte im allgemeinen der Fall.
Sollte Religion absolute Privatsache sein?
Hans Albert: Ja.
Ist Religion eigentlich ein Teil der Probleme unserer Zeit - von Wirtschaftskrisen über die Umwelt bis zur Bevölkerungsexplosion - oder kann sie auch Lösungen beitragen?
Hans Albert: Sie ist schon Teil des Problems. Zum Beispiel das AIDS-Problem in Afrika und die Haltung des Papstes gegen Kondome. Wie Religion zu Lösungen beitragen könnte, wüsste ich nicht.
Zurück zu mehr politischen Fragen: Der britische Philosoph Bryan Magee, damals Labour-Abgeordneter, hat 1974 in seinem schmalen Büchlein zu Popper über dessen Ideen zur Offenen Gesellschaft gesagt, dass sie bestens als Vorlage für einen demokratischen Sozialismus taugen.
Hans Albert: Das würde ich auch sagen.
Aber würden sich zum Beispiel die Sozialisten von vor achtzig Jahren nicht totlachen, wenn sie meinetwegen auf die heutige Linkspartei schauen würden, oder auf die französische Sozialistische Partei?
Hans Albert: Marxisten, ja. Aber man muss ja kein Marxist sein, um Sozialist zu sein. Und, ich meine, soziale Marktwirtschaft zum Beispiel ist ja auch nur eine andere Form von Sozialismus.
Würden Sie Sozialismus denn im Prinzip für eine gute Idee halten?
Hans Albert: Ja, durchaus. Er ist sogar mit Individualismus vereinbar. Im Prinzip ist jeglicher Staat Sozialismus. Je mehr Staat, desto mehr Sozialismus.
Hans Albert (*1921) ist der bedeutendste Vertreter des von Karl Popper begründeten Kritischen Rationalismus in Deutschland. Von 1963 bis zu seiner Emeritierung 1989 war er Professor für Soziologie und Wissenschaftslehre an der Universität Mannheim. Zu seinen wichtigsten Schriften gehören Traktat über kritische Vernunft, Kritische Vernunft und rationale Praxis sowie Freiheit und Ordnung (zwei Aufsätze über Offene Gesellschaft und Sozialismus).
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