Religion und Vernunft
Haiti, Nordkorea und Vietnam - drei unterschiedliche Entwicklungswege
Haiti
Schon in den 1980er Jahren begann Haiti dem von Weltbank und IWF propagierten Washington Consensus zu folgen: "Strukturelle Reformen haben bereits in den Jahren 1986/87 den staatlichen Einfluss auf die importorientierte Wirtschaft verringert. Zusätzliche Reformen im Jahr 1995 haben außerdem den Außenhandel und grenzüberschreitenden Kapitalfluss weitgehend liberalisiert" urteilte die Bertelsmannstiftung vor fünf Jahren.
Insbesondere hatte sich das Agrarland für billige Reisimporte aus den USA geöffnet. Die eroberten bald 80 Prozent des Marktes und drückten den Preis für die einheimischen Produkte entsprechend. So stark, dass die Reisbauern auf der Insel nicht nur kein Geld mehr für Investitionen übrig hatten, sondern auch ihre Bewässerungsanlagen zunehmend verfallen lassen mussten. Zwar versuchten sie sich im "Reiskrieg" mit Straßensperren zu wehren, hatten aber gegen die auch von internationalen Truppen beschützte IWF- und Weltbankpolitik keine Chance.
Dadurch, dass zwar Reis zu Dumping- aber Brennstoff zu Marktpreisen eingeführt wurde, verschärfte sich für die Landwirtschaft ein weiteres langfristiges Problem: Weil Holz der billigste verfügbare Brennstoff war, wurde er deutlich schneller abgebaut als es nachwachsen konnte. Dadurch wurden Böden weggeschwemmt und Gebiete auf Dauer unfruchtbar. Eine Folge dieser beiden Entwicklungen ist, dass sich Haiti heute von der Nahrungsmittelkrise mit am stärksten betroffen sieht.
Ein Schlüssel, daran etwas zu ändern, läge in einem stärkeren Einsatz von Technologie, der wiederum ein Minimum an Bildung bei breiten Bevölkerungsschichten voraussetzt. Ob dies allerdings das haitianische Schulwesen in seiner bisherigen Form leisten kann, ist fraglich: Denn obwohl die sonst überaus privatisierungsbegeisterte Bertelsmannstiftung ermittelte, dass das Bildungssystem "sowohl hinsichtlich der Einrichtungen als auch der Finanzierung […] vorwiegend privat" ist, kommt sie schließlich doch zu dem Ergebnis, dass der "Markt" hier weder für ein ausreichendes Angebot noch für die nötige Qualität sorgt:
"Die Analphabetenquote bei Erwachsenen (15 Jahre und älter) liegt im nationalen Durchschnitt bei 50%. Nur etwa 65% der Kinder (zwischen sechs und zwölf Jahren) gehen zur Schule. In ländlichen Gebieten liegt der Anteil bei nur 23%. Im Hinblick auf die weiterführenden Schulen liegt der Anteil insgesamt bei 22%. Die Qualität dieser Einrichtungen – vor allem außerhalb der urbanen Zentren – ist häufig sehr schlecht […]. Die Bereiche Forschung und Entwicklung sind nur schwach entwickelt."
Nordkorea
Einen ganz anderen Weg ging Nordkorea: Nach dem Trennungskrieg entwickelte sich die Wirtschaft des Landes unter anderem durch intensiven Austausch sowohl mit China als auch mit der Sowjetunion relativ günstig, so dass der nördliche Teil der Halbinsel bis Ende der 1960er dem südlichen sogar als wirtschaftlich überlegen galt. Dann propagierte Kim Il-sung die Chuch'e-Ideologie. In den 1970ern ersetzte diese auch offiziell den Marxismus als Weltanschauung. Statt einer klassenlosen Gesellschaft propagierte man nun eine Art Ständestaat und "Freundschaft zwischen den Klassen". Die Nation wurde als klares Handlungszentrum der Politik definiert. Ein Modell, das in jüngster Zeit auch Nationalbolschewisten und Solidaristen in Europa als Vorbild diente.
Um die Autarkie, die in der Chuch'e-Ideologie ganz oben stand, zu wahren, wurden erhebliche Ressourcen in die Verteidigung gesteckt, wodurch in anderen Bereichen Forschung und Modernisierung zunehmend auf der Strecke blieben. Der Ideologie entsprechend wurde die Entstehung von Fortschritt durch Arbeitsteilung (auf welche sich sowohl die kapitalistische als auch die sozialistische Welt berief) verworfen, weswegen man dem internationalen Warenaustausch weniger Wichtigkeit beimessen konnte. Seit 1989 fiel auch der früher wichtige Handel mit den RGW-Staaten zunehmend weg. Flutkatastrophen in den Jahren 1995 und 1996 sowie mehrere Dürrejahre seit 1997 zeigten die Schwächen dieses Modells auf und führten zu schweren Hungerkatastrophen ebenso wie zu massiven Produktionsausfällen durch Rohstoffmangel, die mit relativ kurzen Unterbrechungen bis heute anhalten.
Vietnam
Vietnam befand sich Ende der 1970er in einer schlechteren Ausgangslage als Nordkorea: Große Teile des Südens, aber auch des Nordens, waren durch mit kurzen Unterbrechungen seit dem Zweiten Weltkrieg andauernde Kampfhandlungen weitgehend zerstört. Auch in den Jahren danach wirkten sich der "Erziehungskrieg" mit China und der Kampf gegen die Roten Khmer negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung aus. Hunger und Inflation waren die Folge, konnten aber im Laufe der 1980er Jahre in den Griff bekommen werden.
Als IWF und Weltbank nach der Lockerung des amerikanischen Wirtschaftsembargos 1993 an die Tür klopften, akzeptierte Vietnam zwar teilweise Kredite, weigerte sich jedoch beständig, die auf den Washington Consensus beruhenden "Ratschläge" der beiden Institutionen unbesehen anzunehmen. Stattdessen bedachte man erst die möglichen wirtschaftlichen Folgen, bevor man sich auf Privatisierungen oder Gesetzesänderungen einließ. So erhebt das Land beispielsweise hohe Zölle auf Verbrauchsgüter (und vor allem auf Luxuswaren), aber keine oder nur sehr niedrige auf Rohstoffe und Maschinen, die es nicht selbst produziert.
Auch zu einer Privatisierung natürlicher Monopole ließ sich das Land trotz inständigen IWF-Drängens nur sehr bedingt überreden. Anders als in Haiti ist das Bildungssystem überwiegend in staatlicher Hand – und weil fast jedes Kind neun Jahre lang eine Schule besucht, beträgt die Analphabetenrate nur etwa 10 Prozent. Im Gegensatz zur Wirtschaft Haitis, die in den letzten Jahren trotz eines sehr niedrigen Niveaus nur leicht wuchs, häufig aber auch stagnierte oder schrumpfte, bewegte sich das Wirtschaftswachstum des Staates am Mekong regelmäßig mit an der Weltspitze. Damit befindet sich Vietnam in Gesellschaft einer ganzen Reihe von Ländern, die sich ebenfalls nicht den von IWF und Weltbank als "Kur" verordneten Forderungen unterwarfen - und heute wirtschaftlich wesentlich besser dastehen als die Privatisierungsmusterschüler, welche die Auflagen des Internationalen Währungsfonds besonders eifrig erfüllten.