Remigrationsarchitektur: Mein Land ist das Haus

Seite 2: Statthalter einer Globalisierung des Baustils?

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Der Stil "unfertigen Bauens" wird weltweit attraktiv, da flexibel auf wechselnde Wohnbedarfe reagiert werden kann. Läuft das auf ein Bauen ohne Genehmigung hinaus? Stefanie Bürkle charakterisiert das lebenslange Schaffen dieses Rückkehrer-Typus eher als "beherztes Bauen", das der Kreativität mehr Raum gibt als ängstlich-normentreues Verhalten. Der Drang zum nie vollendeten Werk führt wieder auf ein sehr eigenes deutsches Wesensmerkmal zurück, das schon Heidegger ansprach: "Bauen ist eigentlich Wohnen."

Wohnzimmer. Über dem Sofa rechts das den Bauherren inspirierende Secondhand-Gemälde. Bild: © Stefanie Bürkle/VG Bild-Kunst Bonn 2016

Wenn "genehmigungsfrei" heißt, sich an Naturschutzgebieten zu vergreifen, wie es der türkische Präsident tut, wird die "kreative Symbolik" fatal. Die Remigranten, die sich neue Baugründe erschließen, verstärken den Trend zur fortschreitenden Urbanisierung der Landschaft in der Türkei. Da sie zudem über dem durchschnittlichen Standard bauen, stoßen sie Prozesse der Gentrifizierung und Missgunst der Nachbarn an.

Sind sie unbewusst Statthalter einer Globalisierung des Baustils, obwohl sie doch gerade die Individualität des Bauens beanspruchen? Einer sagt: Ich habe kein Land. Das Haus ist mein Land. Das Fehlen eines professionellen Gestaltungskonzeptes kommt der Selbstverortung des Bauherren zugute. Jedes Haus hat seine eigene Sprache. Diese Sprache ist jedoch synthetisch im Sinne einer einfachen Logik. These = türkische Baukultur, Antithese = deutsche Baukultur, Synthese = Remigrationsarchitektur. Als gleitender Vorgang ist es ein Crossover.

Weiterbau bei Bedarf. In Artvin nahe der Grenze zu Georgien. Bild: © Stefanie Bürkle/VG Bild-Kunst Bonn 2016

Die Sprache ist zugleich illusionär, wenn die Wunschbilder ins Spiel kommen, die Gegenbilder zur jeweiligen Realität, in der sich der Migrant zweifach fremd vorkommt. Er hat Bilder im Kopf, die der jeweiligen Realität enteilen. So erhaben sein Gefühl ist, selber zu bauen, sind diese Bilder doch schon präformiert. Die Industrie liefert sie ihm, als vorgefertigtes Material. In jedem Baumarkt, in jedem Prospekt, finden sich weltweit die passenden folkloristischen Versatzstücke. Das sind die wahren aus Deutschland mitgebrachten Vorbilder, Sie bedienen die Vor-Urteile, die Stereotypien gerade des Eigenheim-Publikums. Ein neuer Internationaler Stil mit lokalen Schnörkeln hat sich herausgebildet. Auf Umwegen hält er auch Einzug in die Türkei.

Die Remigrationsarchitektur hält den "Gastländern" den Spiegel vor. Entgehen die gentrifizierten mitteleuropäischen Milieus, die Geschmackseliten, den Klischees, wenn der Innenarchitekt das Ich-Design übernimmt? Jeder Bewohner trägt ein Ichideal vor sich her, dessen Gestaltung ihm freundlich und kostenträchtig abgenommen wird.

Deutsch-türkisch oder amerikanisch-italienisch?

Wie halten es die Remigranten mit der Familie? Verkürzt lautet die Gretchenfrage: Wie hält die Familie? Deutschland ist die Zerreißprobe.

Ambivalente Einstellungen schlagen sich vor allem in der Küche nieder. Ein Teil der Rückkehrer hat sich von deutschen Wohnküchen inspirieren lassen. Andere wiederum möchten die Trennung zwischen den Geschlechtern, die Trennung zwischen der Zubereitung des Essens und dem Verzehr aufrechterhalten, bevorzugen jedoch einen offenen Grundriss zum Wohnzimmer als gleichsam kommunikative Öffnung. Der Zweck wird schon durch eine Durchreiche erfüllt. Die Remigranten halten das für deutschen Stil, während es die Deutschen eher "amerikanisch" nennen würden. Es ist wie mit der Pizza. Die erste in Deutschland gebackene italienische Pizza war amerikanisch. Sie kam mit den GIs. Von Würzburg breitete sie sich bis nach Norditalien aus. Auf deutsche transnationale Sehnsüchte der Nachkriegszeit nimmt Stefanie Bürkles Projekt "Eiscafé Venezia" Bezug.

Wohnküche in Kayseri/Zentralanatolien. Bild: © Stefanie Bürkle/VG Bild-Kunst Bonn 2016

Schwere Sitzgarnituren im Wohnzimmer suggerieren eine geschlossene familiäre Ordnung. Repräsentative Funktionen übernimmt, wenn vorhanden, der Salon. Gelegentlich hat er noch einen osmanischen Touch mit Sitzgelegenheiten entlang der Wände. Es ist der Empfangsraum, in welchem sich öffentlicher und privater Bereich verschränken. Für Alltagsnutzungen ist er verschlossen und erinnert an die inzwischen ausgestorbene "Gute Stube" in deutschen Landen. Wohntraditionen ändern sich nicht nur "transtopisch", von Kulturkreis zu Kulturkreis, sondern auch mit der Zeit, als "cultural lag". Die Remigranten beschleunigen auch diesen Prozess, indem sie Salons als "verschenkten Lebensraum" bezeichnen.

Wohnzimmer (Kayseri). Bild: © Stefanie Bürkle/VG Bild-Kunst Bonn 2016

Für Kinder wird mitgebaut, entweder in Form einer Einliegerwohnung oder eines Nebenhauses. Es bleibt aber bei einem Wohnzimmer für alle. Selbst wenn die Kinder zum Beispiel in Deutschland geblieben sind, wird vorsorglich ausgebaut. Die Hoffnung auf Familienzusammenführung stirbt zuletzt. Darin macht sich die Tradition geltend, dass das Eheversprechen gleichbedeutend mit dem Versprechen auf ein Haus war.

Deutsch-Türken oder Türkisch-Deutsche? Die Schüsseln, welche die Berliner Geschosswohnungsbauten der 70er Jahre übersäen, sind auf den Empfang türkischer Programme ausgerichtet. Die Riesenschüssel am türkischen Heim empfängt deutsches Fernsehen. Die Bilder migrieren in die eine Richtung, und die Räume in die andere. Migration von Räumen nennt Stefanie Bürkle ihr Projekt. Die türkischen Remigranten leben nicht an diesem oder jenem Ort, sondern an einem "anderen Ort". Heterotopie nennt es Foucault und bezieht es auf ein Schiff, das "schaukelnde Stück Raum". Lebt nicht jeder, der heute ein Haus baut, auf schwankendem Boden?