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Nida-Rümelins Menetekel zur Mediengewalt

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Die so selbstbezügliche wie larmoyante Diskussion über Mediengewalt, die Nachahmungstäter provoziere, ist jetzt vom Abendlandsuntergangsdiskurs überboten worden. Das war wohl auch überfällig, weil das Massaker von Erfurt - horribile dictu - Blut von gestern ist. Und was ist getan worden, um der Gesellschaft die Gewalt auszutreiben? Unserem Kulturstaatsminister und Ethikphilosophen Julian Nida-Rümelin ist jedenfalls der Medienmechanismus längst klar, der aus Gewaltdarstellungen blindwütige Killer zeugt.

"Schulamokläufe sind eine Erfindung der Medien, ein Fantasieprodukt, das jetzt in die Realität vorgestoßen ist. Es gab keinen einzigen Schul-Amoklauf in der Geschichte, bevor er nicht in den Medien stattgefunden hat."

Diese These ist nicht nur historisch zweifelhaft, sondern vor allem deshalb so kühn, weil sie in Konsequenz nach unerbittlicher Zensur in einer Gesellschaft schreit, die sich doch andererseits auf ihre individuellen Freiheitsrechte, Erziehung zur Mündigkeit und Wirtschaftsfreiheit so viel einbildet. Jede Fantasie, die der humanistischen Veredelung der Gesellschaft zuwiderläuft, müsste nach Nida-Rümelins so praktischer wie schlagfertiger Medienvernunft verboten werden. Ein kategorialer Imperativ, den Immanuel Kant leider noch nicht so ausformulieren konnte, weil er zwar wohl blutrünstige Geschichten kannte, nicht aber deren Digitalisierung.

Da trifft also eine furchtbare Medienfantasie auf einen fehl geleiteten Nachahmer, der sonst brav zuhause geblieben wäre, ohne je zu wissen, wie und wo er seine Gewalt deponieren sollte. Nun könnte man glauben, dass Gesellschaften wie die unsere ihre leidlich intakte Psychohygiene gerade darauf gründen, den verdrängten, unbotmäßigen, unheimlichen, dunklen Fantasien zumindest im Fiktiven Freilauf zu gewähren. Würde sich das Gewaltpotenzial ohne diese Surrogate zur Verarbeitung des alltäglichen Frust vielleicht noch ganz andere Bahnen brechen? Die seriöse Mediengewaltforschung lässt eine eindeutige Option zwischen Katharsis-, Suggestions-, Habitualisierungsthesen und ihre ungezählten Variationen vermissen. Jenseits der nassforschen Repräsentanten der "Do-it-your-self-social-science" gilt wohl lediglich, dass für einige Jugendliche, unter bestimmten Bedingungen, bestimmte Medienangebote fatal sein können. Nichts genaues weiß man also.

Nida-Rümelins Humanitätsappell ist dagegen so oberseminaristisch weltabgewandt, weil uns eingeträufelt wird, dass sich bestimmte Gewaltformen jenseits medialer Vorbilder nicht ereignet hätten. Nun konnten erstaunlicherweise zwei Weltkriege stattfinden, ohne dass sie zuvor als fantasieanregende TV-Versionen für Wilhelm II., Hitler und die ungezählten Kriegstreiber eingespielt wurden. So viel Fantasie in der Vernichtung sollte nach Nida-Rümelins Mediengewalt-Theorem eigentlich gar nicht möglich sein. Oder sollten Aggression, Gewalt und Macht ihre eigenen Fantasiepotenziale haben, ohne dafür in jedem Fall auf Hollywood, CS, Quake III angewiesen zu sein? Die gesellschaftliche Wurzelbehandlung für Gewalt - wenn sie denn überhaupt existiert - dürfte wohl etwas komplexer sein, als Symptome zu Ursachen zu erklären.

"Wir laufen Gefahr, in eine Phase zurückzufallen, die Europa jahrhundertelang dominierte und in der es ein Gaudium war, Missetäter oder Ungläubige vor einem johlenden Publikum zu quälen und zu töten.“

Wie sich nun dieses flächendeckende Menetekel, diese Kulturapokalypse aus dem heiligen Geist der Sonntagspredigt aus den punktuellen Erfurter Erfahrungen speist, bleibt endgültig Rümelins Geheimnis. Denn die Mediengeilheit der Macher und des Publikums folgt doch längst nicht den Partituren des Circus Maximus oder der öffentlicher Hinrichtungen, sondern der Katastrophenlust, wenn die vermeintliche Normalität gesellschaftlichen Miteinanders für ein paar schrille Fernsehminuten einstürzt. Selbst wenn Erfurt zum zweiteiligen TV-Thriller hochgewedelt würde, inszenieren Medien dann den Schrecken doch lediglich nach. Doch in dem Passepartout des Kulturstaatsministers ist noch mehr Platz für den Untergang der Kultur:

"Nachdem wir mühselig eine Humanisierung der Gesellschaft erreicht haben, im 20. Jahrhundert unterbrochen durch den Nationalsozialismus, den Stalinismus sowie die Gräuel des Zweiten Weltkrieges und des Völkermordes, laufen wir jetzt Gefahr, die positive Entwicklung über den Umweg bestimmter Medieninhalte wieder umzukehren."

Nun wüssten wir gerne, von welcher gegenwärtigen Gesellschaft der Kulturstaatsminister eigentlich redet. Meint er etwa die politisch, ökonomisch und ethnisch zerstrittene Weltgesellschaft mit dem Emblem "Global brutal", deren aggressive, militärisch hochgerüstete Potenziale allemal noch ausreichen, jeden Traum der Humanität in den Orkus zu jagen? Oder redet Nida-Rümelin von den Hunger- und Ausbeutungsgesellschaften in Afrika, Südamerika oder Asien? Wer über die Demontage der Humanität redet, sollte seine Empfindlichkeiten auf f(r)uchtbarerem Acker verstreuen.

Schließlich: Wenn Medienfantasien so gefährlich sind, wie wir es vor Nida-Rümelin nicht gewagt hätten zu denken, sollten wir auch 1984, Brazil, Brave New World, Gattaca und Minority Report verbieten. Denn hier könnten der Staat und seine Minister selbst zu verblendeten Medienopfern werden, um Gesellschaften nachhaltig zu zensurieren. Denn warum sollte Nida-Rümelins Suggestionsthese nicht auf ihn selbst anwendbar sein. Wir wissen es nicht. Aber eins wissen wir: Si tacuisses...