Revanche der Peripherie

Seite 3: Weiße Landkarte

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Vor wenigen Monaten hat ein angesehener Wirtschaftspublizist bemängelt, dass die in der Volkswirtschaftslehre vorherrschende Neoklassik selbst Boden, Fläche, Grund oder Land aus ihren Modellierungen eliminiert habe und im Unterschied zu den Klassikern nicht mehr von drei Produktionsfaktoren, Arbeit, Boden und Kapital, ausgehe, sondern nur noch von Arbeit und Kapital (Norbert Häring).

"Raum" als politisch-ökonomische Kategorie gerät bei solchen Wirklichkeitsverbiegungen dann überhaupt nicht mehr in den Blick. Allerdings gilt auch für die kritische Ökonomie der zurück liegenden Jahrzehnte, dass sich die unleugbaren wirtschaftsräumlichen Gefälle nur noch recht pauschal als Teilaspekt ungleichmäßiger gesellschaftlicher Entwicklung in den Arbeiten etwa von David Harvey wieder finden. Jüngere Regionalwissenschaftler suchen seit etlichen Jahren diese Lücke zumindest im deutschsprachigen Raum zu schließen und die Wechselwirkungen von Finanzmarktkapitalismus und Raumentwicklung zu erhellen (Christoph Scheuplein).

Aber auch hier hinterlässt die für den deutschen Wissenschaftsbetrieb prägende Fachborniertheit ihre Spuren: Weder greifen selbst kritische Regionalwissenschaftler die unleugbaren Raumwirkungen von ca. 900 Milliarden Euro allein deutschem Sozialbudget auf, noch lösensich selbst kritische Sozialpolitikwissenschaftler von ihrer Fixierung auf die individualisierende Aufgabenstellung und Wirkungsweise der Sozialversicherungsinstitutionen, sondern lassen deren zunehmend negativen kollektiven Effekte in den Regionen und für die Regionen weiter außer Acht.

Beide Gruppen unterliegen wohl gleichermaßen dem im akademischen Mittelstandsmilieu Deutschlands vorherrschenden Tabu fundamentaler Sozialstaatskritik, jener schon in den 1970er Jahren zutreffend kritisierten "Sozialstaatsillusion" (Wolfgang Müller; Christel Neusüß).

Bei einer Gesamtschau der einschlägigen Literaturbereiche in Westdeutschland fällt zunächst ins Auge, dass politisch-ökonomische Analysen der Raumstruktur und Raumdynamik nur spärlich vorliegen. Der Anteil der "Weißen Flecken" auf der Land- karte überwiegt bei weitem. Hier hat sich vermutlich das westalliierte Verbot geopolitischer Forschung und Lehre in den Nachkriegsjahren (Wolfgang Effenberger) auch auf benachbarte oder ähnlich lautende Fachgebiete ausgewirkt.

In den Folgejahrzehnten haben dann immerhin ein Wirtschaftsjournalist mit einer umfangreichen Darstellung der Wirtschaftslandschaften Westdeutschlands (Kurt Pritzkoleit) und ein Industriesoziologe mit einer beispielhaften Analyse der Kapitalisierung der traditionellen Sektoren und Regionen im nichtsozialistischen Europa als Prosperitätsmotor (Burkart Lutz) in den 1960er und 1980er Jahren die klaffendsten Lücken geschlossen.

Ein plausibler Grund für die hartnäckige De-Thematisierung politisch-ökonomischer Frage- und Problemstellungen im sozialdemokratisch orientierten akademischen Milieu war sicherlich der Umstand, dass das wirtschafts- und reformpolitische Konzept der sozialliberalen Koalition der siebziger Jahre als Markenkern eine simplifizierte keynesianische "Globalsteuerung" verfolgte und "Regionaldisparitäten" politisch eher vom bundespolitischen und parteipolitischen Gegenspieler, den überwiegend christlich regierten Ländern, repräsentiert und thematisiert wurden.

Im Zuge des DDR-Anschlusses nahm dann allerdings die politisch-ökonomische Raumwissenschaft wieder vordere Plätze in den Veröffentlichungslisten ein. Ein raumordnungspolitisch und regionalökonomisch gut begründbarer Widerstand gegen die desaströse Agendapolitik der neoliberalisierten Rot-Grün-Koalition war allerdings aus dem Lager der universitären und außeruniversitären Raumwissenschaft und Regionalökonomie eher nicht zu vernehmen. Lediglich eine, dafür aber exzellente politikwissenschaftliche Analyse der Hartz IV-Politik hat dieses Lohnsenkungs- und Sozialkürzungsprogramm stimmig auch aus der für Westdeutschland typischen Politik einer Lastenverschiebung auf die Länder- und vor allem Kommunalebene ab- geleitet (Anke Hassel; Christof Schiller).

"Raumkosmetik"

Im krassen Gegensatz zu der mit keinem Wort von der Regierungsgeschäftsführerin angesprochenen und für den Politikstil Angela Merkels typischen stillschweigenden Weiterverfolgung (Gertrud Höhler) der beabsichtigten Krankenhausrodung hat die Landesregierung von Brandenburg angesichts der Stimmengewinne der AfD regelrecht panisch ihre seit Jahren vorbereitete, von heftigen Protesten begleitete, Landkreisgebietsreform abgesagt.

Mit solchen Formaten opportunistisch-kosmetischer "Orts- und Bevölkerungsnähe", siehe dazu auch den Vorschlag eines innerstädtischen Lastenausgleichs, wird in nächster Zeit verstärkt zu rechnen sein. Für eine qualifizierte Debatte über die Frage, dass und warum die Notwendigkeiten kapitalistischen Wirtschaftens immer wieder nicht nur benachteiligte Bevölkerungsgruppen, sondern auch benachteiligte Raumeinheiten benötigen, weil sie sonst nicht die Profite der einen Seite aus den Defiziten der anderen Seite generieren können, ist dieser kosmetische Regionalaktionismus nicht unbedingt ein Hindernis: Er bietet Gelegenheiten für politisch-ökonomisches "Tiefpflügen" zum Thema "Raum".