Rojava als geopolitisches Schlachtfeld

Seite 2: Der türkische "Genozidstaat"

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Vor diesem geopolitischen Hintergrund, wo die USA nach Wegen suchten, die Kurden billig zu "entsorgen" und ohne Gesichtsverlust aus Syrien abzuziehen, wo Russland die Spannungen zwischen Ankara und Washington auf Kosten Rojavas anzuheizen bemüht ist, in einer Situation also, in der sich beide Großmächte darin überbieten, der offen propagierten ethnischen Säuberung Rojavas freien Lauf zu lassen, scheinen der türkisch-islamistischen Soldateska, die in Nordsyrien einfällt, keinerlei Hemmungen auferlegt worden zu sein.

Obwohl die Türkei den Genozid an den Armeniern weiterhin leugnet, spielt er im politischen Leben des Landes immer noch eine wichtige Rolle als informelles Disziplinierungsmittel. "Armenier" wird in der Türkei als Schimpfwort benutzt, im politischen Diskurs wird es als Drohung gegenüber Minderheiten verwendet, um den Assimilierungsdruck in der multiethnischen Region zu erhöhen, die ja erst in der frühen Neuzeit von den Türken erobert wurde.

Im gewissen Sinne war der Völkermord von 1915 das konstituierende Moment einer türkischen Staatlichkeit, die mit allem Mitteln eine einheitliche, türkische Nation aus der Konkursmasse des Osmanischen Vielvölkerstaates formen wollte. In diesem Sinne könnte man den türkischen Staat als einen "Genozidstaat" bezeichnen: als einen Staat, in dem der Genozid an ethnischen, religiösen und politischen Minderheiten in Gestalt des nie eingestandenen Völkermordes an den Armeniern präsent bleibt und den Assimilierungsdruck erhöht.

Und es ist diese Intention, in letzter Konsequenz auch einen Genozid gegen ethnische oder politische Opposition in Gang zu setzen, die den aktuellen Exzessen der türkischen Soldateska in Nordsyrien ihren barbarischen Stempel aufprägt. Schon nach wenigen Tagen tauchten die üblichen, bereits aus dem türkischen Eroberungszug in Afrin bekannten, Mord- und Verstümmelungsvideos im Netz auf, die sich in der Türkei anscheinend einer großen Beliebtheit erfreuen.

Massaker, Hinrichtungen von Gefangenen und Zivilisten durch türkische Islamisten, Luftangriffe auf zivile Konvois, die gezielte Zerstörung ziviler Infrastruktur, türkische Luftschläge auf Internierungslager für IS-Terroristen, in deren Verlauf bereits Hunderte Islamisten fliehen konnten - sie sind Ausdruck einer klar faschistischen Kriegsführung, deren Ziel ethnische Säuberung und nichts weniger als die physische Vernichtung des Gegners ist.

Dies ist auch die offizielle Haltung des türkischen Präsidenten, für den die Mitglieder der kurdischen Selbstverwaltung keine Menschen sind - und mit denen eben so umgegangen werden kann, wie es türkische Islamisten mit der kurdischen Politikerin und Feministin Hevrin Khalaf machten. Die Ermordung und Verstümmelung Khalafs wurde von der türkischen Regierungspresse begeistert gefeiert.

Insbesondere die Europäer stehen nun vor den Trümmern ihrer Türkei-Politik, die - maßgeblich forciert durch Berlin - auf eine ökonomische Unterstützung Erdogans im Rahmen des Flüchtlingsdeals setzten. Europa sieht sich nun an seiner südöstlichen Flanke mit einer aggressiven, auf Expansion geeichten Türkei konfrontiert, deren Regierung die Ideologie des radikalen Islamismus und primitivsten Nationalismus amalgamiert.

Dieser beständig ins Extrem treibende Islamofaschismus wird weiter auf Expansion und Konflikt setzen, allein schon, weil die äußere Expansion die zunehmenden inneren Verwerfungen in der Türkei zu überbrücken hilft, die sich bereits am Vorabend des kommenden Krisenschubs in einer handfesten Wirtschaftskrise befindet. Erdogan muss schon um des Machterhalts willen weiter expandieren, erpressen und provozieren (demnächst vor Zypern?), um seine Machtposition zu festigen. Einen Machtverlust würde der allseits geliebte türkische Führer wohl kaum überleben.

Das Appeasement, das die Europäer, die USA und Russland innerhalb der obig dargelegten geopolitischen Frontverläufe gegenüber dem türkischen Regime üben, befördert somit die immer offener zutage tretende, kaum noch zu übersehende Faschisierung der Türkei. Selbst der veröffentlichen Meinung des im offenen Zerfall befindlichen Westens fällt es schwer, diese Tendenzen zu übersehen. Die aggressive Politik des Erdogan-Regimes ist in der türkischen Bevölkerungsmehrheit tatsächlich populär, weil sie bislang erfolgreich ist, weil sie keinerlei Kosten verursacht, während der chauvinistische Fiebertraum eines neuen großosmanischen Reiches näher zu rücken scheint.

Erst wenn sich dies ändert, wenn Angriffskriege keine politische Dividende, sondern ökonomische Folgekosten verursachen, wird Ankaras Großmachtwahn zumindest eingedämmt werden können. Umfassende wirtschaftliche Sanktionen gegenüber der im chauvinistisch-islamistischen Sumpf versinkenden Türkei, abgestimmt zwischen möglichst vielen Akteuren, könnten einen ersten Schritt in diese Richtung darstellen.