Rot-Grün im Westen

Die Neuwahl in Nordrhein-Westfalen ließ an Deutlichkeit wenig zu wünschen übrig. Ob von ihr eine Signalwirkung ausgeht, ist allerdings nicht sicher

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Das bevölkerungsreichste Bundesland wird weiter von einer rot-grünen Koalition regiert, die künftig sogar über eine komfortable Mehrheit im Düsseldorfer Landtag verfügt. SPD und Bündnis 90/Die Grünen versprechen sich vom Urnengang in Nordrhein-Westfalen eine entscheidende Signalwirkung für die Bundestagswahl 2013. Doch die politischen Verhältnisse im Westen sind nur bedingt kompatibel. Unabhängig davon: Wie schnell sich die politische Stimmungslage ändern kann, beweist die FDP, die aus dem Niemandsland der Umfragen ins Parlament zurückkehrt.

"Für dieses System ist ein Update verfügbar"

Nach dem - Anfang des Jahres kaum erwarteten - Einzug in die Landtage von Saarbrücken und Kiel war das gute Abschneiden der Piraten, die sich erneut als eigentliche Wahlsieger fühlen durften, keine Überraschung mehr. In Nordrhein-Westfalen mussten sie sich nicht einmal mit dem ewigen Vorwurf fehlender Inhalte auseinandersetzen, auch weil sich die Konkurrenz ausdauernd mit Currywurst (SPD), fehlenden Umzugsplänen (CDU) oder dem theoretischen und praktischen Wert von Zweitstimmen (Grüne) beschäftigte.

"Dafür, dass wir keins haben, steht hier viel drin", hieß es folgerichtig auf dem Deckblatt des Wahlprogramms, das obendrein opulenter ausfiel als das aller anderen im Landtag vertretenen Parteien. Zu einigen Themen müssten zwar noch konkrete Visionen entwickelt werden, gab die Mannschaft um Spitzenkandidat Joachim Paul freimütig zu, war aber trotzdem optimistisch, dass man das Wesentliche deutlich gemacht habe.

Wir hoffen, dass Sie hinter den Inhalten auch unsere Vorstellung einer freien und offenen Bürgergesellschaft erkennen (…).

Piratenpartei NRW

Auf die wohl unvermeidliche kleinteilige Programmdebatte, die den Piraten mehr oder minder aufgedrängt wurde, darf man gespannt sein. Die Wähler wissen jetzt, dass sich die Partei allein im Bildungsbereich für "eine beitragsfreie Ganztagsbetreuung in wohnortnahen Kindertagesstätten mit kind- und elterngerechten Öffnungszeiten für Kinder ab dem ersten Lebensjahr" einsetzt, überdies eine "Ganztagsbetreuung mit Mittagessen und individuellen Lerngruppen" fordert, die Klassengrößen in den Sekundarstufen I und II auf maximal 15 Schüler begrenzen will und darüber hinaus für eine neue IT-Ausstattung der Schulen, mehr BAföG und eine Verbesserung der Hochschulfinanzierung plädiert.

Die Reihe der Beispiele ließe sich fortsetzen, aber die Antwort auf die obligatorische Finanzierungsfrage fällt dürftig aus. Selbst wenn der Bertelsmann Stiftung, wie von den Piraten gefordert, der steuerbefreiende Status der Gemeinnützigkeit aberkannt wird, spart das Land nicht genug, um Millionenausgaben in dieser Größenordnung zu stemmen. Das sehen auch die Piraten so.

Die bildungspolitischen Aufgaben, die vor uns liegen, können durch eine Umschichtung der Landesmittel allein nicht finanziert werden. Schon die Reduzierung der Klassen- und Kursgrößen ist nur möglich, wenn die Zahl der Lehrkräfte und damit die Personalausgaben erhöht werden. Dies gilt selbst bei sinkenden Schülerzahlen. Die PIRATEN NRW gehen davon aus, dass der Bildungshaushalt zur Realisierung der Aufgaben innerhalb von zehn Jahren vervielfacht werden muss. Dazu muss gemeinsam mit dem Bund ein neuer Finanzierungsmodus vereinbart werden.

Piratenpartei NRW

Auf anderen Politfeldern haben die Piraten, die bei der Wahlberichterstattung insbesondere des ZDF recht stiefmütterlich behandelt wurden, Zweifel daran geschürt, dass sie überhaupt für ein grundsätzliches Update des Systems infrage kommen (Kotau vor dem WDR). Aber nun können sie gleich viermal zeigen, was vom dynamischen Aufbruch im parlamentarischen Alltag übrig bleibt. Die Quittung gibt es, so oder so, im nächsten Wahljahr 2013.

Politik mit Soße

Die Gewinner eines Facebook-Plakat-Wettbewerbs, den die Genossen in vermeintlicher Piraten-Manier ausgeschrieben hatten, brachte die Lage der Dinge schon Wochen vor dem Urnengang auf den Punkt: "Curryurst ist SPD".

Mindestens seit der Amtszeit des unvergessenen Alphatierchens Gerhard Schröder bietet die traditionsreiche deutsche Sozialdemokratie Inhalte ohne besonderen Nährwert, deren Herkunft zweifelhaft ist. Und irgendwie gibt es immer die gleiche Soße. Mal ein bisschen schärfer, mal ein wenig magenfreundlicher - oder als solide Hausmannskost, wie sie die Landesmutter seit 2010 gern auftischt.

Hannelore Kraft machte in NRW jede detaillierte Auseinandersetzung überflüssig. Schuldenbremse einhalten, Kommunen entlasten, milliardenschwere Investitionen in die Zukunft tätigen - im Paralleluniversum der Genossen gab es für alles eine gleichermaßen zufriedenstellende Lösung. Und wer einmal verstanden hatte, dass die "vorsorgende Politik" der Ministerpräsidentin schon immer dem Leitgedanken "Kein Kind zurücklassen" verpflichtet war, musste sich gar nicht erst durch das schmale, 21-seitige Wahlprogramm quälen.

Schließlich konnten sich die Wähler auch auf die von der örtlichen Presse adäquat in Szene gesetzten Straßen und Plätze begeben, um Hannelore Kraft beim Unters-Volks-Mischen ("Das macht sie eh am liebsten") zu erleben. Mit wenigen Security-Männern, vielen Autogrammjägern und einer grünen Landtagskandidatin, die den denkwürdigen Satz "Frau Kraft ist ja auch meine Ministerpräsidentin" zu Protokoll gab.

Währenddessen machten sich Parteistrategen Gedanken über Currywürste, Frikandel speciaal, lecker Bierchen - und deren Verhältnis zur SPD.

Inzwischen wird das Plakat im Internet mit eigenen Slogans verbreitet: Frikandel speciaal ist SPD, Lecker Bierchen ist SPD, usw. Diese Motive und Abwandlungen verbreiten sich schneeballartig im Internet und bescheren uns so eine weitreichende Präsenz. So können wir auf den Wahltermin und die SPD auf Seiten im Netz hinweisen, die sich sonst nicht mit Werbemaßnahmen oder klassischen Pressemitteilungen erreichen lassen.

SPD NRW

Dabei gab es Konkurrenzvorschläge, die den Stimmenanteil der SPD vielleicht noch weiter nach oben getrieben hätten. Warum nur hatte "Am 13. Mai ist Muttertag" gegen "Curryurst ist SPD" keine realistische Chance?

Zweitstimmen dringend gesucht!

Bündnis 90/Die Grünen wollten in NRW auf Nummer sicher gehen und akquirierten zwischenzeitlich sogar die Chefin des Koalitionspartners als Wahlkampfhelferin. Leider ohne deren Zustimmung, und so musste noch ein Spot produziert werden, der dem ahnungslosen Wahlvolk erklärte, wie das denn so läuft mit dem Düsseldorfer Landtag, mit Direktmandaten und Landeslisten - und warum die Zweitstimme am besten bei den Grünen aufgehoben ist .

Der Erfolg in Form von rund 12 Prozent kann sich einmal mehr sehen lassen. Ob der ein wenig selbstgefällige Nachweis guter Regierungsarbeit, der einer Agenda 2012 ff. gegenübergestellt wurde, die Wähler wirklich überzeugte, sei einmal dahingestellt. Allerdings konnte die neueste Auflage des grünen Zukunftsplans mit vielen aktuellen Beispielen angereichert werden, die als Diskussionsbasis funktionierten.

Was hat sich geändert durch die Abschaffung von Studiengebühren, Kopfnoten und Gebühren für das letzte Kindergartenjahr - durch die Einführung des Sozialtickets oder die Verabschiedung eines landeseigenen Integrationsgesetzes? Für rund 50 Prozent der Wähler offenbar genug, um die Bürger zu veranlassen, ihrer ehemaligen Minderheitsregierung nach zweijähriger Probezeit eine weitere Chance zu geben.

"Bedauerlicherweise entscheidet nicht allein die CDU"

Eine Woche vor der Wahl versprach die Homepage der nordrhein-westfälischen CDU "Verantwortung. Kompetenz. Nachhaltigkeit". Unter dem versöhnlich lächelnden Spitzenkandidaten Norbert Röttgen tickte die Schuldenuhr des Landes, die auch als App angeboten wurde, und der Countdown bis zum rettenden Wahltermin. Generalsekretär Oliver Wittke schoss ein paar Pfeile gegen den ehemaligen Koalitionspartner, das Hauptthema Schuldenabbau wurde mit einem alternativen Finanzierungskonzept beackert, und zu guter Letzt menschelte es sogar.

Norbert Röttgen und seine Frau Ebba haben der BUNTEN für die aktuelle Ausgabe in einem Interview einen kleinen Einblick in ihr Leben und ihre gemeinsame Leidenschaft für Politik gegeben.

CDU NRW

Gut, dass der Leser schon vor Beginn des eigentlichen Interviews alles erfuhr, was er wissen musste.

Am lautesten lacht Frau Röttgen, als BUNTE wissen will, ob ihr Mann sie häufig mit Blumen verwöhne. "Mein Mann bringt mir netterweise die Blumen mit, die er bei Veranstaltungen geschenkt bekommt. Er steht abends um elf Uhr vor mir und sagt: 'Guck mal, Schatz, ich war im Blumenladen …'"

CDU NRW

Auch im Privatleben also nur krude Täuschungsmanöver und vorsätzliche Ausflüchte. So etwas hatten die Leitmedien seit langem vermutet. Schließlich ging es bei den Gesprächen mit Norbert Röttgen monatelang nur am Rande um den dringend notwendigen Schuldenabbau, die geplante Energiewende oder die Bildungspolitik in Nordrhein-Westfalen. Die Frage "Bleibt er oder geht er (wieder)?" überlagerte die Sachthemen, und als sie nicht beantwortet wurde, hakte Günter Jauch einfach noch mal nach. Ebenfalls ohne Erfolg. Dass die Landesverfassung einem Spitzenkandidaten keineswegs abverlangt, die Ernsthaftigkeit seiner politischen Ambitionen durch ein lebenslanges Bekenntnis zum Wohnort und Arbeitsplatz Düsseldorf zu untermauern, half Röttgen nicht weiter. Und der Versuch, sich als Reiseleiter für seine aus der Ferne geliebte Heimat einzusetzen, wirkte wenig überzeugend.

Wenn ich unterwegs war und auf der Rückfahrt den Rhein sehe oder das Siebengebirge, dann freue ich mich auf zu Hause. Auf meine Familie. Darauf, an einen Ort zu kommen, wo ich auftanken kann, Ruhe finde, keine Leistung bringen muss.

Norbert Röttgen

Zum Schluss versuchte Röttgen, die Landtagswahl zu einer Abstimmung über die Europapolitik der Bundesregierung umzufunktionieren, aber auch diese Volte blieb ohne jede Wirkung. Überflüssig zu erwähnen, dass sein Bedauern über das Mitwirken der Wähler an dieser ganzen unbequemen Angelegenheit ebenfalls Sympathiepunkte kostete.

Bedauerlicherweise entscheidet nicht allein die CDU darüber, sondern die Wähler (…).

Norbert Röttgen

Von den "10 guten Gründen, am 13. Mai CDU zu wählen", die übrigens so schwammig formuliert waren, dass sie auch für drei, vier andere Parteien getaugt hätten, machte nur ein Viertel der Stimmberechtigten, die ihre Stimme tatsächlich abgaben, Gebrauch. Insofern ist es doch gut, dass Norbert Röttgen, der schon gleich nach der Prognose vom Landesvorsitz zurücktrat, noch einen Koffer in Berlin hat.

Lindner-Comeback rettet die Liberalen

"Lieber neue Wahlen als neue Schulden." Die nordrhein-westfälische FDP ging volles Risiko, als sie den Haushalt der rot-grünen Minderheitsregierung mit scheitern und es so darauf ankommen ließ, dass die um 2 Prozent pendelnden Umfragewerte in einer vorgezogenen Neuwahl bestätigt würden.

Ohne Christian Lindner wäre das Konzept kaum aufgegangen, doch dem zweikampfstarken Ex-Generalsekretär gelang die "Mission impossible". Er reduzierte den Wahlkampf konsequent auf die eigene Person und folgte damit dem jüngsten Erfolgsmodell aus Schleswig-Holstein, wo die Liberalen ihre "gesamte Werbelinie" auf Wolfgang Kubicki abgestimmt hatten. Das Wahlprogramm schrumpfte bei der Gelegenheit auf die Größe einen achtseitigen Faltblattes mit gleich fünf Bildern des fotogenen Spitzenkandidaten.

Inhaltlich gab es keine nennenswerten Neuigkeiten. Die FDP setzte auch in NRW auf einen neoliberalen Kurs in Sachen Wirtschaft, Energie und Verkehr, polemisierte gegen Gesamt- und Sekundarschulen und forderte die Wiedereinführung von Studiengebühren. Außerdem versuchten die Liberalen, im Netz zu punkten. Die Fortsetzung der beispiellos innovativen "Liberté"-Kampagne trieb den Diskussionsprozess immer wieder entscheidend voran. So postete "Till Tischer" nach der Wahl in Schleswig-Holstein:

Ich möchte ja eure euphorie nich Bremsen... Aber gab es da nicht mal ein Projekt 18 oder so was? Also 8,1 sind immernoch weniger 18... Und im Übrigen auch weniger als 8,4 wo die Piraten grade stehen... Und die Grünen habe es in einen zweistelligen Bereich geschaft... Mhhh... Das würde mir dann doch zu denken geben! ;-) Sorry, aber diesen kleinen "Stups in die Seite" konnte ich mir nun wahrlich nicht verkneifen.

Kommentar auf der Facebook-Seite "FDP Liberté"

Gut so, Till! Doch was machen wir jetzt eigentlich mit den Abschiedshymnen, die bereits auf den Untergang der FDP komponiert wurden?

Links draußen

"Das Wahlergebnis der Linken in Schleswig-Holstein ist nicht so, wie wir uns das erhofft haben. Aber ich sehe darin keine Vorentscheidung für Nordrhein-Westfalen", meinte Spitzenkandidatin Katharina Schwabedissen nach der Stimmabgabe im hohen Norden und war sich in diesem Befund mit ihrem bloggenden Kollegen Ulrich Sander einig:

Umfragen gehören zum Klassenkampf dazu. Muss ich das wirklich meinem Kommentar voranstellen?

Ulrich Sander, Linkspartei

Überhaupt, so Schwabedissen weiter, gebe es "gute Gründe anzunehmen, dass der Linken der Wiedereinzug in den Landtag von Nordrhein-Westfalen gelingt."

Aber welche denn, war man versucht zu fragen, und hätte zweifellos etwas über die soziale Spaltung des Landes gehört. Daran wäre sachlich nichts auszusetzen, aber die Art und Weise, wie die Linke ihre Hauptthemen kommuniziert und innerparteilich das genaue Gegenteil von Solidarität vorlebt, trägt immer häufiger dazu bei, den Status als Splitterpartei zu zementieren. Über die Millionärssteuer kann man reden, aber sie ist kaum ein Allheilmittel für die zahlreichen, komplex verstrickten Probleme des Landes.

Allerdings kamen von der LINKEN in diesem Wahlkampf auch positive Akzente. Sie setzte sich engagierter als mehrere andere Parteien mit den Aktionen der rechtslastigen Bürgerbewegung "Pro NRW" auseinander und empfahl auch der Gegenseite die Rückkehr zu einer zivilen Streitkultur.

"Pro NRW" kam übrigens tatsächlich nicht in die Nähe der Fünf-Prozent-Hürde. Die Linke allerdings auch nicht.