Rückkehr der (Corona-)Riots
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Die jüngsten Unruhen von den Niederlanden bis Tunesien haben Gemeinsamkeiten, die in der politischen und medialen Debatte im Westen ausgeblendet werden
Die Unruhen der letzten Tage, die in den Niederlanden vor den Wahlen die innenpolitische Diskussion bestimmen, haben sich Mitte der Woche zunächst nicht fortgesetzt. Auffällig ist, wie schwer sich die Medienvertreter tun, das Geschehen auch nur zu benennen. Neben dem eingangs verlinkten Bericht von Stephan Schleim auf Telepolis schrieb die linksliberale taz immerhin von "Corona-Krawallen". Im Text erwähnte Korrespondent Tobias Müller auch die Entfremdung zwischen Bevölkerung und Regierung.
Rassismus bei Kindergeldaffäre in den Niederlanden
Müller erwähnt auch die niederländische Kindergeld-Affäre, die wenige Wochen vor der Wahl zum Rücktritt der rechtsbürgerlichen Regierung geführt hat. In der gesamten Auseinandersetzung wird die rassistische Komponente erstaunlicherweise weitgehend ausgeblendet, obwohl oder vielleicht gerade weil der Rassismusbegriff mittlerweile oft moralisch sinnentleert benutzt wird.
In den Niederlanden wurden mit der auch in Deutschland bekannten Kampagne gegen "ausländische Sozialbetrüger" immensen Rückzahlung von angeblich zu viel gezahltem Kindergeld eingefordert. So kamen viele Familien in existentielle Schwierigkeiten. Betroffen davon waren vor allem Migranten. Nach Angaben der Onlinezeitung Migazin geht die Kampagne auf Fernsehaufnahmen in Bulgarien zurück.
Dort hatten Bewohner Journalisten erklärt, sie könnten sich mit tausenden Euros, die ihnen der niederländische Staat überwiesen habe, Häuser kaufen. In einigen Fällen hat es solchen Betrug wohl tatsächlich auch gegeben. Doch war ein Generalverdacht gegen alle Migranten die Folge, der dazu führte, dass die Behörden jeden Formfehler bei Anträgen als Betrug einstuften und Rückforderungen durchsetzten.
Eine vom niederländischen Parlament eingesetzte Kommission stufte dieses Behördengebaren als Unrecht ein, was zum Rücktritt der Regierung führte. Die Betroffenen können jetzt mit einer Entschädigung rechnen. Dieser Vorgang zeigt, wie unterschiedlich Fakten bewertet werden können. Was im Rahmen einer rassistischen Kampagne als Betrug eingestuft wird, wurde bei nüchterner Nachbetrachtung zu Behördenwillkür.
Das ist kein niederländisches Spezifikum. Angesichts der bundesweit orchestrierten Kampagne gegen angeblichen Asylbetrug bei Ausländerbehörden, die sich weitgehend als falsch herausstellte, verwundert es, dass nicht einmal der Rücktritt von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) folgte, obwohl er die Kampagne eifrig befördert und die Leiterin der Bremer Ausländerbehörde vorverurteilt.
Auch das Vorgehen gegen Shisha-Bars als angeblicher Hort von Ungesetzlichkeit könnte als Beispiel solcher rassistischen Kampagnen gesehen werden, die offenbar dazu führte, dass Rassisten in Hanau entsprechende Etablissements angriffen.
Warum spricht niemand über Riots?
Mit Blick auf die Lage in den Niederlanden ist es auffällig, dass der Begriff der Unruhe oder der Riots selten fällt. Dabei gibt es seit einigen Wochen das Buch Riot.Strike.Riot des US-Soziologen Joshua Clover in deutscher Übersetzung von Paul Weller, erschienen in dem kleinen Verlag Galerie der abseitigen Künste.
In den USA sorgt das Buch schon länger für Diskussionen. Denn Clover versucht nachzuweisen, dass Straßenunruhen in der nächsten Zeit häufiger zu erleben sein werden. Der Marxist begründet seine These in dem Buch so:
Jahrhunderte lang waren die Unruhen auf den Marktplätzen und Straßen der Augenblick, in dem eine Unterdrückung und Verelendung an ihr Limit gekommen war und explodierte. Diese zentrale Form des Protestes wurde zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts durch die Kampfform des Streiks verdrängt. Der Klassenkampf verlagerte sich in die Produktionssphäre, auf das Terrain der Fabrik. Die Fabrik ist aber nicht mehr der bevorzugte Ort, wo das in die Krise geratene Kapital zum erweiterten Kapital werden kann; seine Renditen werden zu klein.
Aus dem Vorwort des Buches Riot.Strike.Riot
Mit der Krise der fordistischen Fabrik, so die Begründung, werden die Straßen und Plätze wieder zu Orten der Unruhe. Zudem gehört zu ihren Kennzeichen, dass sie an einem Ort entstehen und dann ausbreiten, ohne dass es Koordinatoren gibt. Tatsächlich könnten für die Riots in den Niederlanden die Straßenunruhen Mitte Januar in Belgien Vorbild gewesen sein. Zeitgleich gab es auch Unruhen in Tunesien, die hierzulande natürlich häufig im Kontext der dortigen Revolution im Jahr 2011 gesehen werden, die vor allem in einen Elitentausch mündete.
Es ist das Kennzeichen bürgerlicher Medien, dass die Unruhen im "liberalen Westen" als Krawalle verurteilt werden, wie es mit den Gelbwesten-Protesten in Frankreich geschehen ist. Im globalen Süden wie Tunesien gibt es noch ein gewisses Verständnis der paternalistisch als "verlorene Generation" bezeichneten Akteure.
Zustimmung gibt es für Riots in Belarus oder Hongkong, wo der angebliche Arbeiteraktivist Au Loong Au in seinem Buch "Revolte in Hongkong" eine militante Fraktion beschreibt, die den schwarzen Block imitiert, aber durchaus als ostasiatische Pegida durchgehen könnte.
Solche Akteure haben die Sympathie der gleichen Medien in Deutschland, die umgehend mehr Polizei fordern, wenn sich hierzulande nur ein wenig Ungehorsam auf den Straßen regt.
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