Russen und Ukrainer brauchen den Dialog
- Russen und Ukrainer brauchen den Dialog
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Wie ein Artikel von Wladimir Putin über die historischen Verbindungen beider Länder für Debatten sorgt und wie die Reaktionen einzuordnen sind
Ich bin im westukrainischen Lwiw geboren und aufgewachsen. In der heutigen Wahrnehmung gilt diese Stadt als Hochburg des ukrainischen Nationalismus in seiner russophobsten Variante. Aber es war nicht immer so. Noch im 17. Jahrhundert war diese ganze Region nicht westukrainisch, sondern westrussisch, zumindest geschichtlich, sprachlich und kulturell – und das, obwohl sie zum Polnisch-Litauischen Unionsstaat gehörte. Ein Pionier der russischen Buchdrucker, Iwan Fjodorow, hat im 16. Jahrhundert seine ersten Bücher in Lwiw publiziert.
Auch noch kurz vor dem Ersten Weltkrieg verfügten in dieser ganzen Region – vor allem in Galizien und der sogenannten Karpatenrus – die "Moskauphilen" über großen Einfluss. Nach der Teilung Polens Ende des 18. Jahrhunderts gehörte das Gebiet zum Habsburgerreich, dessen Regierung sich mit all seinem Staatsapparat für die sogenannten politischen Ukrainer einsetzte.
Im Ersten Weltkrieg wurden die Moskauphilen von den Österreichern zu russischen Spionen und Verrätern erklärt. Eine blutige ethnische Säuberung war die Folge; diejenigen, die sich zur russischen Welt zählten, wurden ermordet oder vertrieben.
An diese hier im Westen wenig bekannten Tatsachen hat vor wenigen Wochen der russische Präsident Wladimir Putin in seinem geschichtspolitischen Essay Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer erinnert.
Und ich als in Lwow geborener russischer Ukrainer kann sagen, dass das, was in seinem Text zur Sprache gekommen ist, nicht nur historischen Fakten, sondern auch der Wahrnehmung dutzender Millionen Menschen in Russland, Weißrussland und der Ukraine entspricht: dass Russen und Ukrainer im Grunde genommen ein Volk sind.
Das hat nun sogar die aktuelle Umfrage eines angesehenen Meinungsforschungsinstituts in der Ukraine bestätigt. Mit 44 Prozent stimmte beinahe die Hälfte derjenigen Ukrainer, die nach der Auflösung der Sowjetunion, also schon im unabhängigen ukrainischen Staat geboren wurden, Putin in seiner Kernaussage zu.
Und das der allgegenwärtigen Propaganda über den "Aggressor-Staat", das "barbarische Moskowitentum" und Putin als Wurzel allen Übels zum Trotz. In Russland dürften die Zustimmungswerte sogar klar im Mehrheitsbereich liegen.
Bei Putin kam auch der Schmerz darüber zur Sprache, dass die Mauer, die zwischen Russland und der Ukraine in den letzten sieben Jahren gezogen wurde, ein gemeinsames Unglück und eine Tragödie darstellt, weil die Trennung künstlich herbeigeführt sei.
Eigene Fehler seien dafür die Ursache, aber auch die zielgerichtete Arbeit jener Kräfte, die die Russen von den Ukrainern stets trennen wollten, und umgekehrt. Es ist wahr, dass diese Kräfte vor allem in meiner Herkunftsregion ihr Zentrum eingerichtet hatten, um danach wie Konquistadoren die großen Teile der Rest-Ukraine geistig zu annektieren – aber dazu später mehr.
Heftige Kritik an Putins Artikel
Putins Artikel hat heftige Kritik ausgelöst - wie zu erwarten war, im Westen und in Kiew, das sich nach dem Maidan nationalistischen Konquistadoren ergeben hat.
Putin rede wie ein großrussischer Nationalist, hieß es zum Beispiel in der Neuen Zürcher Zeitung. Erinnert wurde dabei an die als schon längst überholt geltende Formel eines dreieinigen Volkes im zaristischen Russland – Weißrussen, Kleinrussen und Großrussen. So zumindest hieß es in den ukrainischen Mainstreammedien.
Diese vermeintliche Einheit sei einfach alter Kram aus der Mottenkiste der großrussischen Chauvinisten oder Sowjet-Nostalgiker. Und der Artikel sei nichts mehr ein langweiliges Werk der Hof-Historiker des Kremls. "Ihr Russen seid nun entfernte Verwandte von uns und die Kiewer Rus gehört allein der Ukraine", erwiderte Putins ukrainischer Amtskollege Wladimir Selenski in seiner gewohnten Manier eines ehemaligen Comedy-Schauspielers in einer Videoansprache.
Oder es hieß, Russland erhebe Gebietsansprüche in der Ukraine und werde bald einen neuen Krieg gegen seinen Nachbarn anzetteln. So schwurbelte zumindest die FAZ. Und überhaupt: Das, was Putin über die Geschichte schreibt, sei schlichtweg falsch, so die Deutsche Welle mit Verweis auf nicht genannte russische Experten. Und weiter: seine "Ukraine-Doktrin" sei natürlich "eine Drohung".
Das Letzte, was ich in meiner publizistischen Laufbahn in Deutschland anstrebe, ist in die hier im Westen sehr beliebte Rolle eines Putinologen zu schlüpfen. Was treibt Putin an, was geht durch seinen Kopf, was um Gottes Willen will Putin, wie Anne Will und ihre Gäste sich seit Jahren immer aufs Neue fragen. Darüber sollen die anderen rätseln, sei es ihnen doch gegönnt.
Ich schlage vor, den Aufsatz Wladimir Putins einfach unaufgeregt und genau zu lesen, denn wer sein erstes Urteil über dessen Inhalt aus den westlichen Medien geschöpft und erst danach den Originaltext von Putin gelesen hat, wird das angebliche "plumpe Propagandawerk" mit Sicherheit nicht wiedererkennen.
So verweist Putin am Ende des Artikels auf westliche Erfahrungen als Muster für gute nachbarschaftliche Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine. Hier ist das Zitat, das weder im Westen noch in Kiew je Beachtung fand:
Die amtierenden ukrainischen Behörden verweisen gerne auf die Erfahrungen des Westens, die sie als Vorbild betrachten. Aber sehen Sie sich an, wie Österreich und Deutschland, die USA und Kanada nebeneinander leben. In ihrer ethnischen Zusammensetzung, ihrer Kultur und ihrer Sprache stehen sie einander nahe, bleiben aber souveräne Staaten mit eigenen Interessen und einer eigenen Außenpolitik. Dies hindert sie jedoch nicht daran, engste Integrations- oder Bündnisbeziehungen einzugehen. Sie haben nur bedingte, durchlässige Grenzen. Und ihre Bürgerinnen und Bürger fühlen sich trotzdem wie zu Hause, wenn sie diese Grenzen überqueren. Sie gründen miteinander Familien, studieren, arbeiten, machen Geschäfte. Das gilt im Übrigen auch für Millionen von gebürtigen Ukrainern, die jetzt in Russland leben. Für uns sind sie unsere aufs engste verwandten Menschen.
Ist das eine Drohung oder doch nicht viel eher ein Traum von einem verdienten gerechteren Schicksal für uns, Russen und Ukrainer? Warum geht dieses friedliche Zusammenleben bei uns in Osteuropa nicht?!
Das Gespräch über die Ukraine fortführen
Wie ich am Anfang erwähnt habe: Ich stamme aus Lwow, aus einer europäischen Stadt, die im Laufe ihrer fast achthundertjährigen Geschichte schon mehrfach die Herrscher gewechselt hat, und ich spreche neben Russisch und Ukrainisch auch Polnisch.
Ich bin ein Slawe, ein Osteuropäer, der sich in all diesen Ländern heimisch fühlt. Und ich leide sehr, wenn in Europa Krieg ist, wenn Europa nicht ein Haus für alle ist.
Und es ist gut, dass Putin den Auftakt zu diesem Gespräch gesetzt hat und es ist schade, dass niemand in Kiew und bei seinen "Freunden" im Westen offenbar willens ist, es fortzuführen. Man muss nicht mit all seinen Schlussfolgerungen einverstanden sein - das sagt der russische Präsident sogar selbst zum Schluss. Aber man muss das Gespräch anfangen und es zu einer gleichberechtigten Diskussion entwickeln.
Unser Diskurs ist auf lange politische Monologe ausgelegt. Von allen Seiten hören wir unendliche Monologe. Wenn es keinen lebhaften Austausch gibt, artet das politische Monologisieren irgendwann in eine Sprache aus, mit der Sanktionen erklärt und Ultimaten diktiert werden.
Zum Glück ist es am Ende doch nicht so, dass der Artikel Wladimir Putins in der Ukraine gar keine ernstzunehmende Reaktion geerntet hätte. Diese aber kam… aus der Haft. Einen Artikel unter dem Titel Über die Zukunft des ukrainischen und russischen Volkes schrieb der Oppositionspolitiker Wiktor Medwetschuk, Rada-Abgeordneter und Vorstandssprecher der Partei "Oppositionsplattform: Für das Leben".
Er befindet sich seit drei Monaten unter Hausarrest. Nebenbei bemerkt: Weder zur Zerschlagung der von ihm kontrollierten Medien noch zu dem Prozess selbst haben die westlichen Freunde Kiews kein einziges Wort der Kritik verloren. Im Gegenteil: Die USA sind nachweislich an dieser politischen "Säuberungsaktion" beteiligt.
Aus Sicht Medwetschuks ist Putins Artikel ein Signal für den Anfang eines bestimmten politischen Prozesses, dessen Folgen "sehr erheblich" sein könnten. Er warnt seine Landsleute, aber nicht, wie es die Regierung in Kiew macht, vor einem "nächsten" russischen Militärangriff - sondern vor der eigenen "dummen und zerstörerischen" Politik.
Wenn die Ukrainer eine Brücke zwischen Europa und Russland bauen, werden sowohl Europa als auch Russland sie benutzen. Wenn sie eine Mauer bauen, werden sie diese Mauer umgehen und uns mit einer unnötigen Mauer allein lassen.
Wiktor Medwetschuk
Aber er sitzt unter Hausarrest und es ist unwahrscheinlich, dass die Machthaber in Kiew je Notiz von den Ausführungen des ukrainischen Politveteranen nehmen werden. Im Gegenteil: Medwetschuk wird als "Agent Putins" gegeißelt und man hört aus Kiew immer mehr unerhörtes.
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