Russische Protestbewegung will nicht nur Putin stürzen

Bild: U. Heyden

In Moskau kam es zum dritten Mal seit Putins Wiederwahl im März dieses Jahres zu einem "Marsch der Millionen". Soziale Forderungen ergänzten dieses Mal die Forderung nach Rücktritt des Präsidenten

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Nach drei Monaten Sommerpause hatte die russische Protestbewegung gegen Putin gestern in Moskau zu ihrem dritten "Marsch der Millionen" aufgerufen. Demonstration und Kundgebung verliefen friedlich.

Nach Angaben der Polizei beteiligten sich 14.000 Menschen an der Moskauer Demonstration. Die Kreml-kritischen Medien schätzen die Teilnehmerzahl auf 100.000. Der Autor dieser Zeilen hatte den Eindruck, dass die Teilnehmerzahl weit unter 100.000 lag. Kleinere Protestaktionen gegen Putin gab es auch in St. Petersburg und anderen Städten Russlands.

Es fehlen Basisstrukturen

Die Losung "Marsch der Millionen" wurde im März vom Leiter der Linken Front, Sergej Udalzow ("Der Putin-Clan schöpft die ganze Sahne ab", geschaffen, als absehbar war, dass Wladimir Putin die Präsidentschaftswahlen gewinnt. Die Losung klang vielversprechend, doch sie ersetzt nicht Strategie, Programm und Bewegungs-Strukturen, woran es der Protestbewegung immer noch mangelt.

Neben den Forderungen, die schon auf den letzten Großdemonstrationen (Moskauer Wechselbäder) erhoben wurden, wie der Rücktritt von Präsident Wladimir Putin, die Neuwahl des Parlaments und die Freilassung der politischen Gefangenen - zur Zeit sind 16 Anti-Putin-Demonstranten in Haft - wurden auf der heutigen Groß-Aktion überraschend viele soziale Forderungen erhoben.

Selbst bekannte Liberale, die um die sozialen Themen bisher herumgeschlichen sind, äußerten sich nun plötzlich zu diesem Themenbereich. Boris Nemzow, der in den 1990er Jahren Vize-Premier unter Präsident Boris Jelzin war, forderte das "Einfrieren" der Wohnungsnebenkosten. Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow erregte sich darüber, dass eingespartes Geld aus dem Bildungsbereich in die Rüstung gesteckt wird.

Staatsnahe Medien stänkern gegen "kreative Klasse"

Dass die Redner der Protestbewegung jetzt verstärkt soziale Forderungen aufgreifen, ist wohl der Einsicht geschuldet, dass die Bewegung durch die Verengung auf die Rücktritts- und Neuwahl-Forderungen nicht lebensfähig ist. Außerdem versuchen die Redner mit ihren sozialen Forderung die Propaganda staatsnaher Medien zu unterlaufen, welche die Protestbewegung als Freizeitabenteurer der Moskauer "kreativen Klasse" abtut und Putin als den einzigen Garanten sozialer Grundrechte preist.

Ein Demonstarnt fordert die Rückgabe des Volkseigentums. Bild: U. Heyden

Arbeitsfähige Strukturen gibt es in der Protestbewegung bisher nur in Ansätzen. Besonders gut entwickelt sind sie im Bildungsbereich, wo Studenten, Eltern und Lehrer sich gegen massive Kürzungen zur Wehr setzen. Doch die Notwendigkeit von Basis-Strukturen wurde nur von wenigen Rednern thematisiert. Stattdessen wurde die bisherige Strategie allmonatlicher Großdemonstrationen beschworen.

Der ehemalige Duma-Abgeordnete Gennadi Gudkow, dem die Duma gestern wegen angeblicher Nebentätigkeiten das Mandat entzogen hatte, meinte, man müsse noch einige Großaktionen durchführen, dann werde man Erfolg haben. Der Blogger Aleksej Nawalni, der sich als Anti-Korruptions-Experte einen Namen machte, meinte, man müsse zu Demonstrationen auf die Straße gehen "wie zur Arbeit." Nur so könne man die Freiheit für sich und seine Kinder erkämpfen.

Bild: U. Heyden

Rechtsradikaler hetzt gegen Gastarbeiter

Viele Demonstranten trugen Transparente zur Unterstützung der drei inhaftierten Frauen von Pussy Riot. Das politische Spektrum reichte wie schon bei den vergangenen Großdemonstration von liberal über links und linksradikal bis ultrarechts. Es gab auch wieder einen Block der LGBT-Bewegung. Auch die Nationalisten mit ihren Flaggen des russischen Imperiums waren stark vertreten.

Der Gründer der inzwischen verbotenen "Bewegung gegen illegale Migration" (DPNI), Aleksandr Below, erklärte den Kundgebungsteilnehmern mit einem Kleinkind auf dem Arm, dass der Kampf gegen das "Regime Putin" etwas mit dem Kampf gegen den Zustrom von Gastarbeitern aus Zentralasien zu tun hat. Die Tyrannen Zentralasiens würden dem "Räuber" Putin die Gastarbeiter schicken, so die populistische Sprechweise des rechtsradikalen Einpeitschers.

Sergej Udalzow. Bild: U. Heyden

Die Kundgebung auf dem Sacharow-Prospekt dauerte etwa zwei Stunden und endete kurz vor 18 Uhr Moskauer Zeit. Doch der Leiter der Linken Front, Sergej Udalzow, rief dazu auf, die Kundgebung fortzuführen, denn man habe bis 22 Uhr das Recht, den Platz zu nutzen. Mehrere Hundert Menschen harrten noch mehrere Stunden vor der Rednertribüne aus. Am späten Abend wurde Udalzow dann von der Polizei festgenommen. Der Leiter der Linken Front habe versucht, einen Demonstrationszug zu organisieren, so der Vorwurf der Polizei.

Die Protestbewegung wird weitergehen, soviel ist sicher. Doch es sieht ganz danach aus, dass der "Marsch der Millionen" zu einem Ritual wird und die Teilnehmerzahlen weiter abnehmen.