Russische Regisseure gegen "besorgte Bürger"

Konstantin Rajkin warnt vor Zensur wie bei Stalin. Screenshot aus dem YouTube-Video.

Der bekannte Regisseur Konstantin Raikin warnte vor einer Rückkehr der Zensur, auch kulturpolitisch gibt es verhärtete Fronten

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Als der Regisseur Konstantin Rajkin am 24. Oktober auf dem siebten russischen Theater-Kongress in einer emotionalen Rede vor einem Rückfall in die Zeit der Zensur, "wie bei Stalin", warnte, kratzte er an einer Wunde, welche durch die patriotische Stimmung in den letzten zwei Jahren nur verdeckt wurde. Insbesondere in der liberalen Mittelschicht sind viele besorgt wegen mehrerer Angriffe auf Kulturveranstaltungen, die angeblich die Gefühle von Gläubigen oder die guten Sitten verletzen.

Viele Kultureinrichtungen unterwerfen sich in vorauseilendem Gehorsam dem konservativen Mainstream. Offenbar gibt es die Angst, man könne Ärger mit Behörden oder patriotischen Aktivisten bekommen. So ist nur ein kleiner Teil der Kinos in Moskau und St. Petersburg bereit, den Nordkorea-Film "Im Strahl der Sonne" von Vitaly Mansky zu zeigen.

Der Vorwurf "Rückkehr in die Stalin-Zeit" klingt in westlichen Ohren durchaus nachvollziehbar. Doch gerecht ist er nicht. Vermutlich wusste der Regisseur keinen anderen Weg, um sich in der medialen Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen.

Die "besorgten Bürger"

Einiges in der Rede von Regisseur Rajkin erinnert an die deutsche Debatte über die Flüchtlinge und "besorgte Bürger". Auch in Russland gibt es Menschen, die als "besorgte Bürger" auftreten und mit Gewalt gegen Andere vorgehen.

Raikin erklärte in seiner Rede: "Ich glaube diesen Leuten nicht." Denn wer wie im Moskauer Foto-Zentrum Lumier Fotos mit Urin begießt, könne sich nicht als Moral-Apostel aufspielen. Die "besorgten Bürger" würden ihre wahren Ziele, nämlich ein Russland wie zu Stalins Zeiten "mit Worten von Moral, Heimat und Volk verdecken", so der Regisseur. Die Kirche müsse sich daran erinnern, dass sie in vergangenen Zeiten selbst Opfer von Repressionen war. Sie dürfe deshalb die Aktionen der "besorgten Bürger" nicht unterstützen.

Er sei sehr besorgt, dass sich die Macht von diesen Leuten nicht eindeutig distanziere, erklärte der Regisseur. Eine "kluge Macht" - so Rajkin - brauche Künstler, die ihr den Spiegel vorhalten, "damit sie ihre Fehler sehen kann". Nicht die Macht könne entscheiden welche Kunst für das Volk gut und welche schädlich ist. Die Künstler selbst müssten sich untereinander beraten und selbst dafür sorgen, dass ethische Normen eingehalten werden.

Verhärtete Fronten, die Hardliner dominieren

Eine sachliche Debatte über umstrittene Ausstellungen und Aufführungen ist in Russland heute nur schwer möglich, denn auf beiden Seiten führen Hardliner die Debatte. Die eine Seite tritt auf als Vertreter von "Freiheit und Menschenrechten", sympathisiert mit den USA und der Ukraine. Die andere Seite schimpft auf den "verfaulten Westen", der Russland auf die Knie zwingen wolle.

Die einen zeigen Russland als hoffnungslos korrupt und gewalttätig (wie im Film Leviathan), die anderen wollen Russland am liebsten nur von seiner Schokoladenseite zeigen (Ballett, sportliche Erfolge und schöne Landschaften). Alle, die sich zwischen diesen Fronten positionieren, haben Probleme, sich in den sensations-gierigen russischen Medien Gehör zu verschaffen.

Urin auf Nudisten-Fotos

Anlass der Rede von Regisseur Rajkin waren verschiedene Ereignisse der letzten Zeit. In Moskau hatten konservative Aktivisten von der Organisation "Offiziere Russlands" die Schließung einer Foto-Ausstellung durchgesetzt. Angeblich werde in der Ausstellung Pädophilie propagiert. Auf der Ausstellung wurden Arbeiten des amerikanischen Fotographen Jock Sturges gezeigt. Auf einigen der 30 Fotos - aufgenommen an Nudisten-Stränden in der westlichen Welt - waren auch junge nackte Mädchen zu sehen. Die Emotionen schlugen hoch. Ein konservativer Aktivist übergoss Fotos mit Urin.

In der sibirischen Stadt Omsk hatten Aktivisten der religiösen Organisation "Familie, Liebe, Vaterland" vor zwei Wochen die Absetzung der Rock-Oper Jesus Christ Superstar durchgesetzt.

Dass die russisch-orthodoxe Kirche kein geschlossenes Bollwerk des Konservatismus ist, zeigte sich am Dienstag. Der Sprecher der russisch-orthodoxen Kirche, Wladimir Legojda, erklärte, die Kirche sei gegen das Verbot der Rock-Oper. Die Oper entspreche zwar nicht den kirchlichen Regeln, doch durch die Oper hätten viele Menschen "den Weg zu Gott gefunden". Nur ein Kurzsichtiger könne den Unterschied zwischen Gotteslästerung und einer Verletzung der kirchlichen Regeln nicht erkennen.

Der Sprecher von Putin schaltet sich ein

Einer der ersten, die auf die Äußerungen von Raikin reagierten, war Dmitri Peskow, der Pressesprecher des russischen Präsidenten. Er hatte erklärt, Zensur sei in der Kunst "nicht hinnehmbar". Man müsse jedoch Zensur und staatlich geförderte Kunst unterscheiden. Wenn der Staat eine bestimmte Aufführung finanziell unterstütze, habe der Staat auch das Recht, das Thema zu bestimmen. Bei den Aufführungen, die privat finanziert werden, müsse man einfach nur die gesetzlichen Regeln einhalten. Peskow forderte Raikin auf zu sagen, von wem und wann seine Arbeit als Regisseur zensiert worden sei.

Mit harten Worten reagierte auf die Raikin-Rede der Leiter des Motorradclubs Nachtwölfe, Aleksandr Saldostanow. Er sagte, "die Raikins" wollten "das Land zu einem Abflusskanal machen, in dem Dreck fließt". Er werde alles dafür tun, dass Russland "vor der amerikanischen Demokratie geschützt wird".

Das ging Dmitri Peskow deutlich zu weit. Er forderte den Nachtwolf-Chef auf, sich bei Raikin zu entschuldigen, worauf Saldostanow meinte, er achte Raikin als Künstler, entschuldigen werde er sich aber nicht. Der Leiter von Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, solidarisierte sich mit seinem "Freund", dem "Nachtwolf"-Chef und verschärfte den Ton, als er sagte, eine "Kaste von Kulturschaffenden" meine, "sie könne das religiöse Gefühl von Millionen Christen und Moslems verletzen".

Nun hatte die Debatte ihren Höhepunkt erreicht. Auch diejenigen ergriffen jetzt das Wort, welche sich bisher zurückgehalten hatten. Unterstützung erhielt Satirikon-Chef Konstantin Rajkin von den Moskauer Regisseuren Oleg Tabakow, Jewgeni Mironow und Andrej Swjaginzew sowie dem bekannten Fernsehmoderator Wladimir Posner.

Der russische Kulturminister will den Konflikt mit Raikin beenden

Der Kulturminister Wladimir Medinski ist sichtlich nicht daran interessiert, dass die Debatte über den Zensur-Vorwurf weiter ausufert. Am vergangenen Samstag teilte das Kulturministerium mit, Minister Medinski und Regisseur Rajkin hätten sich getroffen und sich beide "für ihre emotionalen Äußerungen entschuldigt". "Alle Fragen würden nun ruhig und ohne die Medien" besprochen.

Bei den "Fragen" geht es um die Finanzierung des Theaters Satirikon. Nach Aussage von Rajkin braucht das Satirikon zusätzliches Geld, weil wegen der Renovierung des Theaters ein anderer Spielort angemietet werden musste. Wenn es kein zusätzliches Geld gäbe, drohe dem Theater der Tod. Einige gehässige Stimmen hatten im Internet geäußert, Raikin habe den Skandal um die drohende Zensur in Russland nur angezettelt, um die Miete für den Ersatz-Spielort des Theaters vom Staat zu bekommen.

Die Vorwürfe der Zensur wies der russische Kulturminister zurück. Gegenüber der Nachrichtenagentur TASS erklärte der Minister am Montag, die Theater in Russland seien "absolut frei" trotz staatlicher Finanzierung. Solch eine Freiheit für die Theater wie im heutigen Russland habe es "seit dem alten Griechenland" nicht mehr gegeben. Diese Behauptung werden konservative Russen sicher unterstützen, die liberalen und linken Russen und Russinnen ganz sicher nicht.