Russisches Militär besetzt ukrainisches AKW

Kernkraftwerk Saporischschja, 2011. Bild: Maxim Gavrilyuk/GNU FDL

"Multi-Megakrise": Ukraine-Krieg bestärkt Positionswechsel in der Atomenergie-Diskussion in Deutschland

Das russische Militär hat offenbar die Absicht, die Atomkraftwerke in der Ukraine unter seine Kontrolle zu bringen, wie aus Meldungen des heutigen Tages hervorgeht. Große Befürchtungen entstanden durch einen Beschuss des ukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja in der Nacht auf Freitag. Berichte dazu sind vom "Fog of war" gekennzeichnet.

Während der ukrainische Präsident Selenskyj von "Nuklear-Terror" spricht und der ukrainische Außenminister twittert, dass die Schüsse von russischen Militärs kamen, wirft Moskau der ukrainischen Seite "Sabotage"-Akte vor.

Im Zusammenhang mit dem russischen Angriff wurde ein mittlerweile gelöschtes Großfeuer in einem "Gebäude für Ausbildungszwecke" gemeldet. Die Reaktorblöcke waren Berichten zufolge nicht betroffen.

Freitagmittag hieß es, dass russische Soldaten das größte AKW der Ukraine in Saporischschja kontrollieren. Der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) erklärte laut Informationen von B24, dass er sich in die Ukraine zum AKW Saporischschja begeben wolle, um sich dort ein genaues Bild der Lage zu machen.

Der Angriff der russischen Armee auf das AKW, der der Einnahme des Atomkraft-Geländes in Tschernobyl folgt, löste große Ängste aus und trifft mitten hinein in eine durch den Krieg akut aufgeladene Diskussion in Deutschland über eine Verlängerung der Laufzeiten der AKW hierzulande.

Positionswechsel

Wie Positionswechsel aussehen können, zeigt sich etwa bei Henrik Paulitz, nach eigener Beschreibung ein Friedens- und Konfliktforscher, der sich seit Jahrzehnten auch mit der Energiepolitik befasst.

In seiner Tätigkeit als Fachreferent Atomenergie bei der Organisation IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung e. V.) vertrat er die Auffassung, dass die "angebliche Brückenfunktion" der Atomenergie nach Auffassung der IPPNW den erforderlichen Umstieg auf die erneuerbaren Energien behindere.

Den Klimaschutz-Effekt durch Atomkraft halte er für gering. Man könne auf eine "marginalisierte Energieversorgungstechnik" ohne Probleme verzichten. "Es gibt keine Renaissance der Atomenergie", lautete seine Expertise im Sommer 2007. Damals verwies er auf das nach wie vor ungelöste Problem der Entsorgung von Atommüll.

Mittlerweile ist Henrik Paulitz zu einem Warner vor einer massiven Gefährdung der Stromversorgung geworden, was er als Folgen einer fehlgeleiteten Energiepolitik auffasst. Die Vernunft, so Paulitz, müsse jetzt anerkennen, dass sich die Bedingungen für den Atomausstieg geändert hätten.

Bereits vor der Invasion der russischen Armee in die Ukraine warnte er vor dem Beginn einer Multi-Megakrise mit explodierenden Energiepreisen, die zu einer "zielführenden Debatte" um den Erhalt der letzten sechs Kernkraftwerke in Deutschland führen sollte. Die "brutale Realität" sei, dass wegen nicht vorhandener Langzeitspeicher Wind- und Solaranlagen auf einen 100-prozentigen Backup-Kraftwerkspark angewiesen sind.

Zaghaft und zerknirscht stellt man nun fest, dass am Ende neben Kohlekraftwerken nur noch die Atomenergie bleibt, als Option, will man im kommenden Winter nicht frieren und im Dunkeln sitzen. Der Weltklimarat IPCC hatte auch schon die Kernenergie empfohlen, für den "Klimaschutz".

Henrik Paulitz

Zur neuen Realpolitik, zu der die "Vernunft" rate, gehört für ihn, dass man sich Reaktor-Konzepte genauer anschaue, die traditionelle Kritikpunkte technologisch neu beantworten würden: "Schwere Unfälle ließen sich durch 'inhärente Sicherheit' ausschließen. Der vorhandene Atommüll könne in diesen Anlagen zur Stromerzeugung genutzt und die Nuklide so umgewandelt werden, dass ein geologisches Endlager für Atommüll überflüssig werde."

Ob das Endlager-Problem derart leicht in Archiven über "obsolete AKW-Techniken" einsortiert und zum Verschwinden gebracht werden kann, ist vor allem Hoffnung, mit der nun politisch Werbung gemacht wird.

"Keine Scheindebatte führen"

Der Vorstand von .ausgestrahlt hält auch angesichts des Beschusses des ukrainischen AKW an seiner Überzeugung fest: Atomkraft ist keine Alternative zu russischem Gas. Versorgungssicherheit und Freiheit sollten über "eine möglichst schnelle und umfassende Energiewende" erreicht werden. Kein "energiepolitischer Rollback zu Kohle und Atom", warnt Matthias Weyland, Vorstand von .ausgestrahlt.

Das würde die Abhängigkeiten von autoritären Regimes wie dem des russischen Präsidenten Putin nur vergrößern und verlängern. Bei der aktuellen Diskussion über die Laufzeitverlängerungen handele es sich um eine "Scheindebatte" ohne jede sachliche Grundlage, denn Atomkraft sei in mehrfacher Hinsicht keine Alternative zu russischem Gas.

Erstens werden nur 14 Prozent des Erdgas in Deutschland zur Stromerzeugung verwendet, und dies überwiegend in Kraftwerken, die zugleich Fernwärme erzeugen oder flexible Regelenergie fürs Stromnetz bereitstellen. In beiden Fällen können AKW gar nicht einspringen. Die restlichen 86 Prozent des Gasabsatzes gehen ganz überwiegend in die Wärmeerzeugung für Gebäude und Industrie. Laufzeitverlängerungen von AKW würden hier, ungeachtet aller Sicherheitsprobleme, aktuell in keiner Weise helfen!

Zweitens stammen fast zwei Drittel des Urans weltweit aus den autoritär regierten Staaten Russland, Kasachstan, Usbekistan und China. Laufzeitverlängerungen würden der Versorgungssicherheit daher einen Bärendienst erweisen und die geopolitischen Abhängigkeiten sogar verstärken.

Drittens ist das Abschaltdatum der letzten drei laufenden AKW in Deutschland seit langem geplant, die Brennstoffvorräte entsprechend angepasst. Auf die Schnelle ließen sich gar keine neuen, auf die jeweiligen Anlagen angepassten Brennstäbe produzieren.

Und schließlich ist Atomkraft bereits in Friedenszeiten höchst riskant.

.ausgestrahlt

Aus dem Umweltministerium hieß es gestern, dass man eine Laufzeitverlängerung der letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland für "nicht verantwortbar" halte. In einer Krisenzeit wie dieser könne dies Deutschland "sogar besonders verwundbar machen".