Russland: Nawalny-Bewegung verliert an Kraft
Polizei schritt gegen nicht genehmigte Demonstrationen massiv ein. Weniger Teilnehmer bei landesweiten Protesten am Sonntag als beim letzten Aktionstag am 23. Januar
Anhängern von Alexej Nawalny in Russland ist es nicht gelungen, die Proteste für die Freilassung des Oppositionspolitikers auszuweiten. Am Sonntag gingen in Russland weniger Nawalny-Anhänger auf die Straße als am letzten Protesttag am 23. Januar, meldete das liberal-oppositionelle Radio Echo Moskwy. In Moskau hätten am Sonntag 3.000 Menschen demonstriert.
Auch die russische Nachrichtenagentur Tass berichtete, dass sich am Sonntag weniger Demonstranten an den organisierten Aktionen beteiligten. In Moskau seien es 2.000 Teilnehmer gewesen, während es am 23. Januar noch 4.000 waren. Große Demonstrationen gab es nach Angaben von Tass nur noch in Jekaterinburg mit 2.300 Teilnehmern. In den meisten Städten hätten "nur wenige Hundert Menschen" demonstriert.
Wie viele Demonstranten am 31. Januar in ganz Russland genau auf die Straße gingen, ist nicht bekannt. Weder das Innenministerium noch die Opposition veröffentlichte genauen Angaben. Die einzige Zahl, die am Sonntagabend in den russischen Online-Medien zu finden war, stammte von der Seite ovdinfo.org. Sie meldete die Zahl von 5.000 Festgenommen. Am 23. Januar hatte ovdinfo.org 4.000 Festgenommene gemeldet.
Wieviele Navalny-Anhänger am 23. Januar in ganz Russland demonstrierten, ist ebenso unklar. Nach Angaben des Online-Mediums MBCh-Media waren es 110.000 Demonstranten. MBCh-Media wird von dem im Ausland lebenden Oligarchen Michail Chodorkwoski finanziert.
Der Bereich um den Kreml war gesperrt
Am Sonntag hatte die Moskauer Stadtverwaltung den Roten Platz und den gesamten Innenstadtbereich um den Kreml herum für Fußgänger und Autofahrer gesperrt. Geschäfte und Restaurants mussten bis zu den Abendstunden schließen. Sieben U-Bahnstationen in Kreml-Nähe wurden ebenfalls geschlossen und erst gegen Abend wieder geöffnet. Ein derartig präventives Vorgehen der Stadtverwaltung gab es seit Beginn der von Aleksej Nawalny mitgetragenen Anti-Putin-Proteste 2011 in Moskau das erste Mal.
Die Nawalny-Anhänger versammelten sich am Sonntag dann an den U-Bahn Stationen Trubnaja und Tschistije Prudy. Von dort zogen sie zur U-Bahn-Station Krasnye Worota. Etwa 3.000 Menschen demonstrierten in drei Protestzügen durch die Stadt. Eine dieser Kolonnen zog bis in die unmittelbare Nähe des Gefängnisses, in dem Nawalny einsitzt.
Die Polizei begleitete die spontanen Demonstrationszüge und zog immer wieder einzelne Demonstranten aus der Menge. Die Festgenommen musste sich dann – das war eine neue Taktik – breitbeinig und mit dem Gesicht zum Polizei-Transporter aufstellen, um eine Untersuchung nach verbotenen Gegenständen über sich ergehen zu lassen. Danach wurden sie in Transporter verfrachtet.
Frohlocken über Image-Verlust von Nawalny
Eine Redakteurin der Nachrichtenagentur Ria Nowosti sah das Ansehen von Nawalny schon im Sinken begriffen. Als Beleg führte sie an, dass die Enthüllung über den "Putin-Palast" am Schwarzen Meer an Brisanz verloren habe, seitdem der Großunternehmer Arkadi Rothenberg sich als Eigentümer des Luxus-Komplexes geoutet habe. Auch sei der Palast, wie von Nawalny behauptet worden war, gar nicht bewohnbar, sondern befinde sich in einer Umbauphase.
Dass der von Nawalny gegründete "Fond zum Kampf gegen die Korruption" des neuen US-Präsidenten Joe Biden aufgefordert hat, Sanktionen gegen 35 Russen einzuleiten, darunter acht hochrangige Funktionäre, die Putin nahestehen, zeige, dass das Gremium als "ausländischer Agent" agiere, so die Agenturjournalistin.
Graben zwischen staatsnahen und liberal-oppositionellen Medien
Der Fall Nawalny offenbart auch eine tiefe Kluft zwischen russischen Medien. Während die staatlichen russischen Medien bei den Nawalny-Protesten hervorhoben, dass Kinder über TikTok zu den Demonstrationen gelockt wurden und Demonstranten gewalttätig auf Polizisten losgingen, berichten liberale und oppositionelle Medien in Russland von friedlichen Demonstranten und übermäßiger Gewalt der Polizei.
Das liberale Internet-Portal Meduza.io berichtete, in St. Petersburg hätte die Polizei Elektroschocker gegen Festgenommene eingesetzt (Video ab Minute 1:15). Gewalt gab es aber tatsächlich auch von Seiten der Demonstranten. Auf Videos ist zu sehen, wie Protestteilnehmer versuchten, Festgenommene zu befreien. In Moskau leitete die Polizei ein Ermittlungsverfahren wegen eines Brandanschlags auf ein Fahrzeug der Spezialeinheit Rosgwardija (Russische Garde) ein. Nach Aufnahmen einer Überwachungskamera wurde das Fahrzeug von zwei maskierten Männern angesteckt. TASS meldete, dass 15 Teilnehmer der Demonstrationen in Moskau wegen Angriffen auf Polizisten mit Strafen rechnen müssten.
Liberale Oppositionsmedien in Russland sind sehr gut aufgestellt. MBCh-Media und der Kabelkanal Doschd (Regen) sendeten am Sonntag im Stream-Format direkt von den Demonstrationen in Moskau und St. Petersburg. Das von Gasprom finanzierte liberal-oppositionelle Radio Echo Moskwy brachte den ganzen Sonntag über Live-Korrespondentenberichte von den Demonstrationen in Moskau und St. Petersburg.
Das alles erinnerte an die Zeit der Maidan-Proteste in Kiew 2013/14. Von morgens bis tief in die Nacht berichteten damals von Oligarchen wie Petro Poroschenko finanzierte Fernsehkanäle von den Maidan-Protesten in Kiew und schufen damit den Eindruck, dass "das ganze Land" demonstriert, was jedoch nicht der Fall war. Der Maidan, der dann im Februar 2014 in einen Staatsstreich gipfelte, fand nur in Kiew statt.
Die russische politische Elite tritt bisher noch geschlossen auf. Doch eine Bemerkung von Wladimir Putin bei einer Video-Schaltung mit russischen Studenten machte hellhörig. Putin erinnerte daran, dass Russland 1993 Schreckliches erlebt habe. Das russische Parlament sei mit Panzern beschossen worden. Putin sprach das nicht explizit aus, aber er deutete damit an, dass man eine Spaltung der russischen Elite auf jeden Fall verhindern müsse.
Putin ist faktisch seit 21 Jahren der Garant einer einigen russischen Elite. Das beeindruckt auch die Russen, die mit der Sozial- und Bildungspolitik unter Putin unzufrieden sind. Die Angst, dass Russland im Chaos streitender Clans und möglicherweise sogar in einem Bürgerkrieg versinkt, ist groß.
Was macht die russische Linke?
Der Chef der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), Gennadi Sjuganow, grenzt sich scharf von Nawalny ab und bezeichnet ihn als Lobbyisten der USA. Der linke Video-Blogger Konstantin Sjomin und der ebenfalls linksgerichtete Ökonom Aleksandr Busgalin haben dazu aufgerufen, sich nicht an der Nawalny-Bewegung zu beteiligen. Diese Bewegung habe nichts mit den Interessen der Arbeiterklasse gemein.
Der linke Video-Blogger Maxim Schewtschenko hingegen sieht die Bewegung für die Freilassung von Nawalny als Zeichen einer aufkeimenden Opposition gegen korrupte und antisoziale Machtstrukturen.
Der Soziologe Boris Kagarlitzky deutet die Proteste als Zeichen einer zunehmenden Proteststimmung in der Bevölkerung. Dies habe mit ausländischer Einmischung nichts zu tun, sondern zeige, dass die Menschen von Putin enttäuscht seien, weil er den sozialen Mindeststandard immer weniger garantieren kann.
Die wachsende Proteststimmung in Russland müsste die Linken nutzen, um gemeinsam mit Demokraten eine Bewegung für einen sozialen Staat und Bürgerrechte aufzubauen. Diese Aufgabe sei aber nicht von heute auf morgen zu realisieren. Dem Stab von Nawalny, so Kagarlitzky, dürfe man sich auf keinen Fall unterordnen. Ein Teil der russischen Elite sei bereit, "das Regime" gemäß der von Nawalny erhobenen Forderungen "zu reformieren". Das sei für progressive Kräfte keine Alternative.
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