Russland und Türkei am Wendepunkt?

Durchwachsene Beziehung: Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan 2018. Foto: kremlin.ru / CC-BY-4.0

Die Beilegung des Streits mit der Türkei um den Nato-Beitritt von Finnland und Schweden bedeutet keine grundlegende Änderung des Russland-Kurses in Ankara.

Ende Juni unterzeichneten die Türkei, Finnland und Schweden auf dem Nato-Gipfel in Madrid eine gemeinsame Erklärung, die die Blockade der Türkei für den Beitritt der beiden nordischen Staaten zum Nordatlantikpakt beendete. Nachdem Erdogan Helsinki und Stockholm wochenlang als "Heimat von Terroristen" beschimpft hatte, kam seine skandinavische Aussöhnung für viele Beobachter überraschend.

Sie ist jedoch einfach ein Beleg seiner Doppelstrategie gegenüber dem Westen: Er kritisiert westliche Kollegen oft, um bei der eigenen Bevölkerung zu punkten und andererseits spezielle Nato-Zugeständnisse für die Türkei herauszuschlagen.

Die Aufgabe der Blockade bedeutet keinen Sofortbeitritt

Die harte und kompromisslose Haltung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gegenüber Schweden und Finnland hielten viele Journalisten für einen Ausdruck des Willens, seinen russischen Amtskollegen Wladimir Putin bei seiner Konfrontation mit dem Westen durch den Krieg in der Ukraine zu stärken.

Der türkische Präsident – so neutral und freundschaftlich er sich in Richtung Moskau auch gibt – zieht eindeutig Nutzen aus der aktuellen Verwundbarkeit des Kreml durch dessen Verstrickung in das ukrainischen Abenteuer.

Trotz des gemeinsamen Dokuments mit Finnland und Schweden, dessen zentraler Inhalt die "Terrorbekämpfung" ist, legt Erdogan aber Wert darauf, dass es noch kein grünes Licht für die Aufnahme der beiden Staaten in die Nato bedeutet. Es ist der Anfang eines Prozesses, der seine Zeit braucht und eingefroren werden kann, wenn türkische Bedingungen nicht erfüllt werden. Dabei ist es für Finnland und Schweden, die bei der inländischen Terrorgefahr zu den Schlusslichtern weltweit zählen, beleidigend und absurd, wenn sie überhaupt der Unterstützung von Terroristen beschuldigt werden.

Außenpolitische Spiele für inländisches Publikum

Doch wie Erdogans harsche Rhetorik in Stockholm und Helsinki ankommt, war für ihn nebensächlich. Sein wichtigstes Publikum saß im eigenen Land. Im Juni 2023 sind in der Türkei Parlamentswahlen, auf die der Präsident mit einem mulmigen Gefühl blickt.

Die türkische Lira wurde in den letzten Jahren gegenüber dem Dollar fünfmal abgewertet, die aktuelle Inflationsrate beträgt offiziell zum Vorjahr an die 80 Prozent. Unabhängige Quellen sprechen sogar von 175 Prozent - all das ist der höchste Wert seit 2002, als Erdogan mit seiner Partei an die Macht kam. Damals übrigens, um die Situation der türkischen Wirtschaft zu verbessern, die nach dem Millennium in einer Stagnation verharrte.

Erdogans momentanes Standing wird durch ein starkes Bündnis aus sechs Oppositionsparteien geschwächt, zu dem auch frühere Unterstützer seiner Person gehören, wie der ehemalige Premierminister Ahmet Davutoglu oder der frühere Wirtschafts- und Außenminister Ali Babacan. Angesichts dieser Situation muss man alle Schritte des türkischen Präsidenten auf der internationalen Bühne unter dem Prisma der Situation im Land betrachten, der Gefahr eines realen Machtverlusts.

So baut er auf Ereignisse mit Symbolkraft, etwa die von der UNO abgesegnete Umbenennung des englischsprachigen Landesnamens von Turkey in Turkiye.

Auch die Unterzeichnung der Erklärung mit Finnland und Schweden verkaufte Erdogan als diplomatischen Sieg - obwohl er nur eine Krise beseitigte, die er selbst zuvor künstlich geschaffen hatte. Ansonsten streut er Sand ins Getriebe der Nato und ruft laufend seine Sammlung von Forderungen den Nato-Partnern in Erinnerung.

Asyl für kurdische Aktivisten ist dabei nur die Spitze des Eisbergs. Der türkische Staatschef betont daneben die Notwendigkeit des EU-Beitritts seines Landes und der Aufhebung von Waffenembargos. Wie dem Verkauf von F-16 Kampfjets statt hochmoderner F-35 Jagdflugzeuge, die Washington nicht an die Türkei liefern wollte, nachdem diese das russische Luftabwehrsystem S-400 in Russland angeschafft hatte.

Die Türkei weiter als Freund und Plattform von allen

In dieser Situation zählt die Türkei zu den Hauptnutznießern der russischen Ukraine-Invasion. Ankara hat vertrauensvolle Beziehungen sowohl zu Moskau als auch zu Kiew. Obwohl sich Erdogan den antirussischen Sanktionen nicht angeschlossen hat, kritisiert der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi ihn dafür nicht, sondern kauft türkischen Kampfdrohnen vom Typ Bayraktar TB2, die eine wichtige Rolle bei der Zerstörung russischer Militärausrüstung spielen.

Darüber hinaus verurteilt Erdogan verbal bereits seit dem Kriegsausbruch die russische Militäraggression unmissverständlich und mein "die Türkei unterstützt dem Kampf der Ukraine zum Schutz ihrer territorialen Integrität".

Das alles ist für Moskau aber nichts neues. Schon seit 2014 gab es immer wieder kritische türkische Töne zur Annexion der Krim. Moskau hat dennoch kein Problem damit, bei der Vermittlung des Konflikts die Türkei zu bevorzugen.

Auch Belarus, Israel, Frankreich und andere Staaten reklamieren eine solche Rolle für sich. Dennoch wurde Istanbul Ende März zum zentralen Verhandlungsort für Vorbedingungen eines möglichen Friedensvertrags: Sicherheitsgarantien für die Ukraine als Gegenleistung für eine Neutralität.

Ankara war einer der ersten und fast der einzige, der der seinen Dienst als Sicherheitsgarant für Kiew anbot. Dennoch gerieten die Gespräche in eine Sackgasse, vor allem wegen der Unbeständigkeit der Position des Kremls, der seinen ursprünglichen Blitzkriegsplan aufgab und seitdem ständig die endgültigen Ziele seiner "Militäroperation" anpasst.

Ebenso in Istanbul fanden Mitte Juli Verhandlungen zwischen Russland, der Ukraine, der Türkei und der UNO über Getreidelieferungen statt - zum weltweit zentralen Thema der Ernährungssicherheit. Nach Auskunft des türkischen Verteidigungsministeriums gab es dabei eine grundsätzliche Einigung über die Schaffung eines sogenannten Getreidekorridors für den Export landwirtschaftlicher Produkte aus der Ukraine.

Kein neuer Wirtschaftskurs gegenüber Moskau

Die türkisch-russischen Wirtschaftsbeziehungen haben unter den jüngsten Ereignissen praktisch nicht gelitten - ja sie erhielten sogar neue Impulse. Ankara durchlebt eine schwere Wirtschaftskrise, Moskau ächzt unter Sanktionen und wirtschaftlicher Isolation.

Beide sind mehr denn je an einer Fortsetzung ihrer gegenseitigen Kooperation interessiert. Der türkische Botschafter in Moskau Mehmet Samara erklärte erst kürzlich, dass der gegenseitige Handel in diesem Jahr das Volumen von 50 Milliarden US-Dollar erreichen könnte - das sind 15 Milliarden mehr als im Vorjahr.

Weiter laufen auch gemeinsame Großprojekte wie die Pipeline Turkish Stream oder der Bau des Atomkraftwerks Akkuyu, dessen erster Block 2023 fertiggestellt werden soll. Weiter halten beide Länder Kontakt im Bezug auf wichtige internationale Themen wie der Lage in Libyen oder dem Konflikt um Bergkarabach zwischen Armenien und Aserbaidschan. Eine besondere Stellung hat hierbei die Beilegung der syrischen Krise gemeinsam mit dem Iran, der ein gemeinsamer Gipfel in Teheran am 19. Juli gewidmet war.

Danach gab es keine bedeutenden Erklärungen. Aber symbolisch war dieses Ereignis vor allem für Putin wichtig, der zeigen will, dass er kein Paria und nicht isoliert ist. Nicht zuletzt deswegen schweigt Russland zur türkischen Entscheidung von Ende April, den Luftraum für russische Militär- und Zivilflugzeuge über Syrien zu sperren.

So versucht Erdogan weiter, die Situation auszunutzen. Das wird sich beim Herannahen der Wahlen noch verstärken - als internationaler Strippenzieher kann er seinen Amtsbonus als Präsident gut nutzen. Er wird auch bald eine neue Militäroperation in Nordsyrien beginnen, die er schon im Mai angekündigt hat. Russland ist aktuell nicht in der Position, sich aktiv dagegen zu wehren.

Ruslan Suleimanov war bis Februar 2022 leitender Nahost-Korrespondent der russischen Nachrichtenagentur Tass in Kairo. Er kündigte dort aus Protest gegen den Krieg und arbeitet jetzt als freier Nahost- und Mittelasienjournalist in der Türkei und Aserbaidschan.