Russlandbild: Im Osten nichts Neues?
- Russlandbild: Im Osten nichts Neues?
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Barbaren, Naturmenschen, Seelenmenschen und der aufgeklärte "Westen": Über Konstruktions - und Denkmuster des deutschen Bildes von Russland. Krieg spielt eine zentrale Rolle.
Vor 100 Jahren erschien Walter Lippmans Buch "Die öffentliche Meinung". Das Buch zählt bis heute zum Fundament medienwissenschaftlicher Grundausbildung. Kritiker wie Noam Chomsky arbeiteten sich umfassend an diesem Buch ab.
Aber wieso fand Lippmanns Buch so viel Aufmerksamkeit? Was genau war das Neue? Lippmann formulierte den Begriff des "Stereotypes" und setzte diesen mit den jungen aufstrebenden modernen Massenmedien in Zusammenhang. Seine These: Menschen leben in zum Teil stark vereinfachten Welten, da ihr kognitives System die komplexe Wirklichkeit nicht ganzheitlich verarbeiten kann.
Mit Platons Höhlengleichnis im Prolog des Buches setzt Lippmann den erkenntnistheoretischen Kurs des Buches. Die Folge dieser reduzierten Wahrnehmung der Wirklichkeit sind nach Lippmann nun bestimmte Vorurteile. Lippmann nannte diese Vorurteile die "Bilder in unseren Köpfen", welche die Lücke zwischen Wissen und Nicht-Wissen schließen.
Durch diese Plausibilisierungstechnik entsteht nach Lippmann für den Menschen eine Art Pseudo-Umwelt. Diese ist durch Vorurteile, Symbole und Klischeevorstellungen determiniert.
Alltagswissen: Der Kitt unserer Gesellschaft
Im Grunde ist dieses Wissen umgangssprachlich als sogenanntes Alltagswissen bekannt. Alltagswissen ist wichtig, es ist so etwas wie der Kitt unserer Gesellschaft. Spannenderweise ist es aber weniger Wissen, also eine direkte Aneignung von Fakten im Sinne des Studiums einer Bedienungsanleitung, um beispielsweise eine Waschmaschine in ihrer Funktion nutzen zu können.
Alltagswissen ist eher so etwas wie ein Pauschbild, also ein Muster, welches sich durch ständige Wiederholungen mehr und mehr verfestigt. Nur so ist es möglich, dass Menschen Gegenstände erkennen und über diese kommunizieren können.
Interessanterweise kommunizieren Menschen dann aber nicht über genau diesen einen Gegenstand, sondern meist über eine Art verkürzte Vorstellung jenes Gegenstandes – mit folgendem Resultat: Viele Informationen werden übersehen, man konzentriert sich, natürlich ganz alltäglich, unterbewusst auf das Wesentliche.
Testen Sie es selbst: Malen Sie eine Palme! Und jetzt bitten Sie ihre Kinder, Lebenspartner, Freunde bei nächster Gelegenheit ebenfalls um ein Bild einer Palme. Keine weiteren Informationen sind nötig. Das Resultat: Sie werden überrascht sein, oder auch nicht, wie scheinbar identisch die gezeichneten Palmen der verschiedenen Personen sind.
Sie fragen sich jetzt zu Recht, was hat dieser Kontext mit unseren Bild von Russland zu tun? Nun, hier ist eine weitere Frage: Wann waren Sie das letzte Mal in Russland? Russland scheint grundsätzlich nicht das beliebteste Urlaubsland der Deutschen zu sein. Zuletzt rangierte es auf Rang 13, direkt hinter Marokko, aber noch vor Thailand. Nichtsdestotrotz hat jeder eine mehr oder weniger genaue Vorstellung davon, wie Russland als Land so ist und wie seine Bewohner so ticken.
Keine Angst, an dieser Stelle müssen Sie jetzt nicht wieder zum Stift greifen, denn Bilder sind immer auch durch Sprache sichtbar. Da der direkte Erfahrungsaustausch also eher reduziert ist, muss es also einen weiteren Wahrnehmungskanal geben. Und an genau dieser Stelle kommen nun die Medien ins Spiel. Jetzt könnte man ganz elegant den Soziologen Niklas Luhmann zitieren, der sagte:
Alles was wir von der Welt wissen, wissen wir aus den Massenmedien.
Medial vermitteltes Wissen wird ähnlich wie direkt erfahrbares Wissen in das Alltagswissen transferiert und dort verankert. Ein wichtiger Punkt der erfolgreichen Verankerung ist die Wiederholung bestimmter Erzählmuster. Diese langfristigen Verankerungen spielen eine große Rolle, wenn es zur Konstruktion des nicht anwesenden "Anderen" kommt.
Der nicht anwesende Andere – ein barbarisches Wesen
In der Russlandberichterstattung taucht häufig der Begriff des Barbaren auf. Im 16. Jahrhundert war dieser Begriff eine Art Synonym für einen nicht christlichen Glauben. Damit wurde den Russen eine gewisse Unzivilisiertheit attestiert.
Die damaligen Reiseberichte von Hofgesandten beim russischen Zaren erzählten u. a. von dessen despotischer Herrschaft und der Unterwürfigkeit des russischen Volkes. Zudem wird den Russen bereits im Jahre 1549 durch Sigismund von Herberstein eine Trunksucht attestiert.
Über die nachfolgenden Jahrhunderte bildeten sich drei große Kategorisierungsformen heraus: Zum einen der Russe als Naturmensch. In dieser Vorstellung wird er liebenswürdig und kindlich naiv wahrgenommen. Zum anderen gilt er aber auch als Barbar – im Grunde also als die böse Seite des Naturmenschen, der irrational in der Logik des Stärkeren agiert. Das dritte Narrativ ist der sogenannte Seelenmensch. Diese Idee spielt auf eine ausgeprägte Religiosität an, die bis ins Okkultische reicht.
Die viel zitierte "russische Seele" als Muster rekurriert auf ein Zusammenspiel genau dieser drei Narrative. Auffällig an diesem nach wie vor vitalen Konstruktionsmuster des deutschen Russlandbildes ist die Abwesenheit des europäischen Aufklärungsgedankens: Sapere aude! – der Ruf Immanuel Kants aus Königsberg scheint nicht bis nach Moskau gedrungen zu sein.
Zu unendlich die Weiten des Ostens. Der Mut, von dem Kant spricht, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, scheint im Russlandbild nicht zu verfangen. Die drei Kategorisierungen sind zu dominant.
Negativabzug des eigenen Bildes
Es ist diese scheinbare Abwesenheit der Aufklärungsidee, die eine Art Demarkationslinie prägt. Die Essenz dieses Effekts ist ein historischer Prozess, der das Russlandbild als eine Art Negativabzug des eigenen Bildes sieht.
Und an dieser Stelle wird es dann ganz wie im Fotolabor schnell schwarz und weiß: Der Barbar im Osten wird zur wahrnehmungspsychologischen Voraussetzung für die Konstruktion des aufgeklärten Menschen im Westen.
Hier wird der Grundstein der Ost-West-Polarisierung gelegt. Dieser ist im zeitgenössischen Russlandbild dominierend, wie meine aktuelle Studie zum medialen Russlandbild in Deutschland in den Jahren 1999 bis 2016 zeigt.
Der Begriff "Westen" war während dieses Zeitraums der meistselektierte Begriff im Kontext der Russlandberichterstattung durch deutsche Leitmedien. An dieser Erkenntnis wird sichtbar, was Luhmann meint, wenn er sagt:
"Das Fremdbild ist der nichtsichtbare, aber dennoch markierte Teil des Selbstbildes."
Damit wird auch klar, wie diffus die Abgrenzung zwischen "Uns" und den "Anderen" ist.
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