Russlandbild: Im Osten nichts Neues?

Seite 2: Wer ungesund lebt, lebt länger

Dies zeigt auf, wie kontext- und perspektivbezogen politische Interessen und damit implizierte Erzählperspektiven sein können. Dementsprechend können Feindbilder, aber auch Freundbilder plausibel und passend konstruiert oder auch dekonstruiert werden – Kontext is King.

Grundsätzlich gilt aber: Je fester eine bestimmte Erzählperspektive im Alltagswissen eingewoben ist, desto wahrscheinlicher ist die Reproduktion des jeweiligen Musters – was wiederum auf die Festigkeit der Erzählperspektive einzahlt. Der trunksüchtige Russe hat, trotz seiner ungesunden Lebensweise, so bereits Jahrhunderte überlebt.

Ein weiterer Aspekt in der Analyse des medialen Russlandbildes der letzten Jahre bringt den Begriff des Zaren ins Spiel. Alle russischen Staatsoberhäupter werden medial als Zaren beschrieben, egal ob blau im Blut oder rot im Herzen.

Selbst der Posterboy der friedlichen Revolution von 1989, Michael Gorbatschow, wurde dieser medialen Inthronisierung in seinen frühen Amtsjahren unterzogen, wie es der Osteuropa-Historiker Wolfgang Eichwede feststellte. Hier scheinen die Medien ganz fest im Griff eines Stereotyps zu sein, welches bis zum heutigen Tag anhält, wie die aktuelle Studie aufzeigen konnte.

"Putins Russland"

Am 26.09.2001 wurde Wladimir Putin, im zweiten Jahr seiner Amtszeit als gewählter Präsident, von Günther Nonnenmacher in der FAZ zum neuen Zaren von Russland gekrönt. Mit der Überschrift "Putins Russland" markierte der FAZ-Mitherausgeber eine Zeitenwende.

Putin auf dem Thron Russlands. Zarengleich reißt er Russland an sich und Russland unterwirft sich ihm, ganz im Sinne der russischen Seele. "Putins Russland" ist mehr als eine Beschreibung, es könnte für ein Russlandbild stehen, welches die letzten 20 Jahre geprägt hat.

Auch Jürgen Habermas macht auf diesen Aspekt aufmerksam, wenn er in seinem viel beachteten Artikel "Krieg und Empörung" vom 29. April 2022 in der SZ davon spricht, dass "die Konzentration auf die Person Putins [...] zu wilden Spekulationen [führt], die unsere Leitmedien heute wie zu den besten Zeiten der spekulativen Sowjetologie ausbreiten".

Der Kalte Krieg

Im Grunde genommen zeigt sich hier ein sich selbstverstärkender Prozess – und damit kommen wir zu weiteren Erkenntnissen der Studie: Das heutige Russlandbild wird sehr stark im Kontext des Kalten Krieges wahrgenommen – übrigens ein Begriff, den ebenfalls Walter Lippmann im Jahr 1947 das erste Mal beschrieb.

Es sind Begriffe wie "Sowjetunion", "Atomwaffen" oder "Stalin", welche mit starker Vitalität immer wieder quasi ahistorisch eine Vergangenheit wachrütteln, die von Wettrüstung und einer globalen Kriegsangst geprägt war.

Wenn man so möchte, ist der mediale Krieg seit 1999 nicht nur als narratives Element nachweisbar, sondern fast schon dominierend. Der Begriff "Krieg" ist einer der meistselektierten Begriffe. Fast hat man den Eindruck, dass Russlandberichterstattung gleich Kriegsberichterstattung ist.

An dieser Stelle wird nun sichtbar, warum Walter Lippmann vor 100 Jahren einen gesellschaftlichen Nerv getroffen hat, der vitaler denn je ist. Stereotype sind Denkmuster von enormer Festigkeit, die als geteiltes Alltagswissen das Handeln ganzer Gesellschaften leiten und beeinflussen können.

Nicht nur Russland – auch Afrika

Diese Festigkeit drückt sich auch in medialen Diskursen aus und ist somit auch diskursanalytisch messbar. Medien verstärken also zum Teil den Effekt der komplexitätsreduzierenden Wahrnehmung des kognitiven Systems von jedem Menschen – das Gehirn bleibt ja in jedem Falle die letzte Instanz. Lippmann sagte dazu:

Im Alltag ist das Urteil oft bereits lange vor der tatsächlichen Beobachtung gefällt, die dann nur noch zur Bestätigung desselben dient.

Im Grunde spricht Lippmann darüber, dass die medial konstruierte Welt immer auch eine Art Logik der selbsterfüllenden Prophezeiung in sich trägt. Eine medienwissenschaftliche Studie der TU Dortmund zeigte im Jahr 2013, dass die mediale Konstruktion des Kontinents Afrika zu 47 Prozent aus den Themen Krieg, Kriminalität, Krise, Katastrophen und Krankheit besteht.

Das medial konstruierte deutsche Afrikabild ist nach wie vor fest in den Händen stereotyper Vorstellungen, welche durch mediale Wiederholungen weiter gefestigt werden. Kurt Tucholsky formulierte diese Feststellung bereits im Jahr 1931 wie folgt:

Es gibt Auslandskorrespondenten, die wollen die fremden Völker, zu denen man sie geschickt hat, nicht erkennen. Sie wollen sie durchschauen.

Die Stimmen einer Dekonstruktion werden gerade im Kontext von feministischer Außenpolitik und entwicklungspolitischer Bildungsarbeit heute lauter denn je. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung investiert jährlich Millionenbeträge in Bildungsprojekte innerhalb Deutschlands, um genau diese Muster aufzubrechen unter dem Motto "Entwicklungspolitik als Zukunfts- und Friedenspolitik". Aus undifferenzierten Bildern sollen ausdifferenzierte Bilder werden.

Beziehen wir diesen Kontext auf das zeitgenössische Russlandbild, ist folgendes zu analysieren. Im Jahr 2022 befindet sich Russland im Angriffskrieg mit der Ukraine. Das Bundesministerium für Verteidigung erhöht den Haushalt um 100 Milliarden Euro.

Die historische bipolare Ideologie ist scheinbar zurück mit all ihren Stereotypen und Feindbildern. Dieser Krieg wird in einer zukünftigen Gegenwart beendet sein. In einer Zeit nach dem Ukrainekrieg könnte eine Dekonstruktion des Russlandbildes im Sinne einer kooperativen und konsensorientierten Weltoffenheit stattfinden.

Was bleibt ist die Gewissheit, dass Vorurteile unsere Welt vereinfachen egal, ob in Bezug auf Russland, Afrika oder die Palme, die sie vor sich auf dem Blatt Papier sehen. Diese Erkenntnis, dass Stereotypen unsere Vorstellungen prägen, ist der erste Schritt, um diese infrage zu stellen.


Danny Schmidt ist Medien- und Kommunikationswissenschaftler. Er promovierte an der Universität Erfurt zum Russlandbild in den deutschen Leitmedien der Jahre 1999 – 2016. Sein Buch Russland im Spiegel der Medien ist gerade aktuell beim Verlag Frank & Timme erschienen.

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