Russlands Krieg und wir: Höhere Zwecke und falsches Bewusstsein

Seite 2: Ein Irrtum und seine Folgen

Das Ja zur Welt und die aus ihm erwachsene unmittelbare und theoretische Vorstellung, die Welt, wie sie nun einmal ist, allem voran die Welt, wie sie von der heimischen Staatsgewalt eingerichtet ist, sei zum Zweck des Wohlergehens des Einzelnen eingerichtet und deshalb das einzig gangbare Lebens-Mittel für ihn, den modernen Menschen oder Staatsbürger, ist nichts als ein Fehlschluss, ein folgenschwerer Irrtum.

Ein sich irrendes, ein falsches Bewusstsein, hervorgebracht durch einen Gebrauch des Verstandes, der in seiner Anpassung an die heimischen Verhältnisse, das unser "Wir" oder Land in seiner Vorstellung als Mittel nimmt, es deshalb anerkennt und will. Ein falsches Bewusstsein, das das Land, das ihm nicht gehört und dessen Eigentümer oder Besitzer der Staatsbürger nicht ist, bewahren, schützen und verteidigen will: Weil es ihm als sein unumgängliches Lebens-Mittel, als sein "höchstes Gut" erscheint.

Auf der Grundlage dieses Irrtums, dieser Selbst-Täuschung, bildet das staatsbürgerliche Bewusstsein die Vorstellung und innere Haltung heraus, im Interesse der vermeintlichen Sicherung der eigenen Existenz gegen jede vorgestellte oder offenbare Bedrohung, die es wahrzunehmen glaubt und die ihm die offiziellen Priester der Erinnerung in ihrer Eigenschaft als Herren über Krieg und Frieden jeweils präsentieren, müsse er das Land, das Wir, in dem es lebt, verteidigen.

Verteidigen notfalls mit aller zur Verfügung stehenden Gewalt, mag sie noch so rücksichtslos, noch so unmenschlich sein. Verteidigen mittels ausgerechnet des Krieges, den andere als es selbst bestellen und in dem der Einzelne wie das gesamte Volk als nichts anderes eingeplant und eingesetzt ist, denn als lebendiges Werkzeug im schonungslosen Kampf um Sieg oder Niederlage zwischen Staaten und Nationen.

Dieser zu jeder Gewalttätigkeit bereite Verteidigungswille ist die Konsequenz dessen, dass sich das staatsbürgerliche Bewusstsein in eins sieht und in eins macht mit dem Interesse der heimischen Staatsgewalt und dem Land, dem die heimische Staatsgewalt vorsteht und das es regiert.

Soweit bringt es das falsche Bewusstsein: Indem es das Land, in dem es heimisch ist, in der Verkennung und Verkehrung des Verhältnisses von Mittel und höheren Zwecken als sein Existenz- und (Überlebens-) Mittel nimmt, wird es endgültig zum Parteigänger, Befürworter, Mitmacher und Mitstreiter des heimischen Wir. Zum willigen Vollstrecker all der Gewalt, die das Land und der Krieg von ihm fordern.

Das ist der fruchtbare Nährboden, der es ermöglicht, dass die in den Nato-Ländern eingemeindeten Völkerschaften gleichermaßen wie die Völkerschaft hierzulande "als Parteigänger ihrer Regierungen im Krieg gegen Russland" (Suitbert Cechura) auf die Straße gehen und im von der Nato und ihren Machern inszenierten Chor "Freiheit für die Ukraine" einstimmen. Ein fruchtbarer Nährboden, auf dem die vorgestellten Bedrohungen und Bilder vom außenpolitischen Feind, wann immer gewünscht, nur so blühen und gedeihen.

Ein fruchtbarer Nährboden, der zeigt, warum die westlichen Völkerschaften auf die "sorgfältig und mit eindeutiger Absicht über Jahre aufgebauten Hassbilder bedauerlicherweise (herein-)fallen." (Björn Hendrig): Denn was augenscheinlich "unser Wir" bedroht, das bedroht "uns alle". Also auch mich, meine Existenz, mein Leben, das Leben meiner Liebsten – so der staatsbürgerliche Gedanke.

Das Tor für die offiziellen Priester der Erinnerung und ihrem Interesse, den Vorkriegs- oder Kriegszustand auszurufen, steht nunmehr angelweit offen. Lange schon, bevor der Krieg in der Ukraine begann. So ist er beschaffen, der gegenwärtige "Geisteszustand" (Renate Dillmann) in der westlichen Hemisphäre.

In der Gewissheit, dass die Maxime eines an reiner Objektivität orientierten Gebrauchs von Verstand und Vernunft, eben die in diesem Sinn "Maxime eines gesetzlosen Gebrauchs der Vernunft" (Kant, a.a.O.: 281) weit und breit nicht in Sicht ist, kann die Kriegspropaganda unter allgemeinem Zunicken gebieten:

Nicht diskutieren kann man dies: Wir sind inmitten der Gefahr eines militärischen Konflikts, eines Krieges in Osteuropa. Und dafür trägt Russland die Verantwortung .

Frank Walter Steinmeier, 13.2.2022

Und unter allgemeiner Zustimmung kann die Kriegspropaganda vom Gebrauch des Verstandes verlangen:

Jede und jeder einzelne von uns muss jetzt eine dezidierte und verantwortungsvolle Entscheidung treffen und Partei ergreifen

Annalena Baerbock, 1.3.2022