SMS: Kurze Nachrichten verdichten

Ein Experiment mit den poetischen Möglichkeiten von SMS

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Ein einfaches Experiment veranschaulicht die poetischen Möglichkeiten von SMS (Short Message Service): Man nehme dazu das Klischee einer Abschiedsszene zwischen zwei Liebenden, eine geheimnisvolle Botschaft, ein Handy sowie einen Computer mit Internetanschluss.

"Ein Tag Ende August in diesem Jahr. In der Abflughalle C verschlingen sich Paula Mohn und Tan Herschel in einem Kuss. Nichts stört sie. Weder die Touristen, noch das Quietschen der Gepäckwagen, noch der Vibrationsalarm seines Handys. Später wird Herschel bereuen, die ankommende SMS nicht eher gelesen zu haben ... "

Und so weiter ... Schnell sind weitere 15 Zeilen auf dem Wordeditor zusammengeschrieben. Interessant wird es erst beim Medienwechsel vom Wordeditor zum Editor der SMS-Nachrichten auf dem Handy. Die Geschichte muss nach 160 Zeichen sitzen. Schon beim Übertragen der ersten Zeichen setzen mentale Filter ein und verdichten den Text. Die ersten Zeilen lauten nun:

"Ein tag ende august frankfurt flughafen. in halle c verlieren sich paula mohn + tan born in einem kuss. nichts stört sie. später..."

Danach muss nun die eine zweite Nachricht kommen. Es empfiehlt sich zum Wordeditor zurückzukehren, dort lässt sich die schon geschriebene Geschichte bequemer in das SMS-Format übertragen. Das impliziert folgendes: Der zweisilbige Namen Herschel wird durch das einsilbige Pseudonym "born" ersetzt, die Groß- und Klein-Schreibung nivelliert und die vage Beschreibung der Atmosphäre am Flughafen wird gestrichen. Die Touristen und das Quietschen des Gepäckalarms werden entfallen. Der Geschichte kommt zugute, dass der Leser erst später von dem Handy erfährt. Die SMS-Formatierung kann also die Spannung steigern. Außerdem setzen einsilbige Worte wie "born" rhythmische Akzente. Der Ort des Geschehens interessiert im SMS-Format nicht, dafür Bewegungen und Veränderungen.

Folgendes Resümee scheint jetzt schon vor dem Versenden der einzelnen Sätze möglich: Die technische Vorgabe der 160 Zeichen führt zu einer Anordnung des Textes, die an die Versform von Gedichten und Epen erinnert.

Eine Rückbesinnung auf Klassiker der Medientheorie hilft bei der Präzisierung: Ong hat in seiner wegweisenden Studie1 über das Verhältnis von mündlicher und schriftlich fixierter Dichtung herausgearbeitet, dass beim mündlichen Vortrag von Geschichten der Erzähler zu zahlreichen schmückenden Beiworten tendiert und seine Geschichte unvermittelt beginnen lässt. Der Rhythmus hatte beim mündlichen Vortrag eine strukturelle Bedeutung, denn er war unerlässlich für die Erinnerung des Stoffs. Ong vermutet in Übereinstimmung mit McLuhan, dass elektronische Kommunikationsformen wie das Fernsehen zu einer Wiederkehr oraler Techniken führen werden.

Für die elektronische Form der SMS trifft das allerdings nur bedingt zu, wie die erste Phase des Versuchs zeigt. Eine SMS-Geschichte muss sofort Spannung und Neugier erzeugen und Lust auf weitere Botschaften wecken. Im Unterschied zum mündlichen Vortrag kann sich ein SMS-Rhapsode nicht von den Wogen eines rhythmischen Vortrags tragen lassen, sondern muss in jedem SMS-"Vers" Verbindungen zu der vorherigen und der nachfolgenden Botschaft herstellen, zum Beispiel, indem er Bekanntes so variiert, dass es die Neugier auf kommende Botschaften wecken wird. Er muss gegenwärtig sein, dass seine Komposition unterbrochen wird.

Der Feedback-Mechanimus, also die wechselseitigen Beeinflussung in der Situation des mündlichen Vortrags zwischen Erzähler und Hörer ist ein Merkmal oraler Dichtung. Der Feedback-Mechanismus, dem mögliche SMS-Botschaften unterworfen werden, ist anders geartet. Am Rande sei bemerkt, dass die SMS sich auch von der Mandarinenform der schriftlichen Diskursen unterscheidet. McLuhan hat herausgearbeitet, dass die Schriftkultur zur feinen Analyse und damit zur Spezialisierung und Weitläufigkeit des zu vermittelnden Wissen tendiert. Für feine Analysen ist in SMS-Nachrichten kein Platz, ebenso wenig für umständliche Beschreibungen. Technisch-ökonomische Bedingungen formen die SMS-Botschaften. Das verdeutlicht die zweite Phase des Experiments. Um zu sparen und um Andere nicht zu belästigen, werden die Nachrichten nicht mit dem Handy versendet, sondern per freenet an die eigene Handynummer.

Der "kostenlose" Versand durch freenet lässt nur Nachrichten im Umfang von 120 Zeichen zu. Inklusive der Einrichtung des "kostenlosen Accounts" muss man zum Versand der folgenden Geschichte 45 Minuten online sein. Insgesamt wurden bei dem SMS-"Vortrag" 1.228.907 Bytes versendet und 4.036. 740 Bytes auf dem Rechner empfangen.

Der Text trifft zerstückelt auf dem Handy ein. Er stottert, von rhythmischer Gliederung keine Spur. Der eingetroffene Text hat nun folgende Struktur. (Für diesen Beitrag ist er elektronisch transkribiert worden. "\"markiert in der Transskription das Ende einer Nachricht. Die Informationen zur Uhrzeit wurden gestrichen und die einzelnen Sendungen nummeriert)

1. Ein tag ende august frankfurt flughafen. in halle c verlieren sich paula mohn + tan born in einem kuss. nichts stört si\.
2. Später wird born bereuen, die ankommende sms nicht eher gelesen zu haben. Irgendwann hören sie auf zu küssen,\
3.dann hektik. Die hose noch heftig gespannt, kommt Born nicht in die gänge. knapp schafft eres noch zudem varigflug.\
4. auf der gangway liest er die sms. nachricht betrifft artikel in mare,\
5. an dem er die letzten Wochen gearbeitet hat. betrifft Kontostand und mehr: *muessen ueber antarktis berichten. geschie\
6. hieht wahnsinn. gletscherkalben. melde mich. Zora* Ist Born zunächst egal. Born denkt an paula. er moechte waehrend d\

Der Vortrag wird durch (insgesamt vier) Abstürze des Browsers unterbrochen. Zum Versenden der Nachricht muss jeweils ein Banner gedrückt werden. Das führt zu platten erotischen Webseiten mit Byte-trächtigen Fotos und Seiten, welche die Installation von Cookies fordern. Außerdem werden die Nachrichten durch "Werbeblöcke" verändert, die hier nur exemplarisch wiedergegeben werden:

7. (1000 Klingeltoene? Handyfun. freenet.de): des flugs nach rio alle SMS durchgehen, die er in den letzten monaten von paula bekommen hat. freut sich\
8. (1000 Klingeltoene? Handyfun. freenet.de): Endlich einmal Zeit. SMS von Paula kommt. Glücksgefühl verstärkt, Hautkribbeln. Er liest sms+ notiert sofort die Worte\
9. (schnell suchen mit: www.dino-online.de): in dem kleinen Notizbuch, zum Verwahren der Nachrichten. schon das zweite buch ihrer liebe.gefühl von geborgenheit und\
10. (Neu: Picture-SMS! Handyfun.freenet.de): lust. wächst, wenn er ihre botschaften abschreibt. smsglück wie lange noch?\

Von Feedback im Sinne einer wechselseitigen Einstimmung zwischen Zuhörern und Rhapsoden kann nicht die Rede sein, sondern von rüder und dennoch beharrlicher Determinierung durch einen lästigen Verbund technischer und ökonomischer Vorgaben. Offensichtlich passt die Form der Romanze zwischen Paula und Tan nicht zur freenet-shell.

Dennoch lassen sich Argumente für eine optimistische Bewertung des Experiments angeben, z.B. McLuhans Ausführungen zur Situation der Literatur am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Der kanadische Literaturwissenschaftler führt an dem Roman "Ulysses" von James Joyce vor, wie der historische Roman unter den Bedingungen des Films erneuert werden kann. Der Charakter von Bloom im Ulysses sei interessant, weil er den antiken Odysseus mit Charlie Chaplin verschmelze.

Der Medienwechsel vom Film zum Roman ist anderer Natur, als zwischen schriftlichen Formen, mag man einwenden. Kittler hat in Grammophon, Film Typwriter gezeigt, dass die Lyrik Georges und auch die Gedichte der Weltkriegsteilnehmer mit Funk- und Telegraphieerfahrung vor dem Hintergrund des Wechsels von der Hand- zur Maschinenschrift betrachtet werden können. SMS führt zu einer ähnlichen Kompression und Beschleunigung der Sensationen wie Schreibmaschine, Telegraphie und Verschlüsselung. Paten zukünftiger SMS-Dichtungen dürften August Stramm, Hans Arp und Else Lasker Schüler sein. Das werden weitere Versuche zeigen.