SPD-Politiker: "Wir sollten uns nicht in eine Depression hineinreden"
Der SPD-Außenpolitiker Niels Annen über die schlechten Umfragewerte seiner Partei, die Kritik an Parteichef Gabriel und eine mögliche Koalition mit der Linkspartei
Herr Annen, Sie sind seit 2003 Mitglied des SPD-Parteivorstands - inwiefern hat Ihre Partei sich in dieser Zeit verändert?
Niels Annen: Natürlich mache ich mir Sorgen um den Zustand meiner Partei. Wir haben in den vergangenen Jahren viele Mitglieder verloren; in einigen Teilen des Landes laufen wir sogar Gefahr, eine kritische Größe zu unterschreiten. Es wäre ein schwerer Fehler, wenn wir all dies nicht zur Kenntnis nähmen. Allerdings warne ich davor, jetzt in Panik zu verfallen.
Im Bund liegt die SPD derzeit unter 25 Prozent - wo liegen aus Ihrer Sicht die Gründe dafür?
Niels Annen: Die Basis, auf der wir Politik machen, hat sich verkleinert. Früher war die SPD im Arbeitnehmermilieu stärker verankert, da ist in den vergangenen Jahren vieles zu Bruch gegangen. In sich fast homogene Milieus, auch sozialdemokratisch orientierte, sind nahezu komplett verschwunden. Hinzu kommen Überalterung und die Tatsache, dass junge Menschen nur noch selten einer Partei beitreten. Die Geschwindigkeit der Globalisierung lässt manche zweifeln, ob Politik überhaupt noch etwas bewirken kann. Es ist kein einfacher Weg, aber wie bemühen uns diese Menschen zurückzugewinnen.
Welche weiteren Gründe sehen Sie?
Niels Annen: Das ist auch der Preis, den wir für die Reformen Gerhard Schröders gezahlt haben. Unser Land hat stark von ebenjenen profitiert, vor allem ökonomisch. Dennoch leidet unsere Partei bis heute darunter (die SPD hat allein in den Jahren der Regierung Schröder mehr als ein Viertel ihrer Mitglieder verloren, Anm. d. Red.). Wir Sozialdemokraten sind stolz auf die ökonomische Stärke unseres Landes, wir sind allerdings selbstbewusst genug, auch Fehler zu benennen, die damals gemacht wurden. Vieles haben wir inzwischen korrigiert.
Zum Beispiel?
Niels Annen: Unser Parteivorsitzender hat in den vergangenen Jahren sehr viel Zeit und Mühe investiert, um das Verhältnis zu den Gewerkschaften wieder zu verbessern. Heute ist die SPD wieder ein verlässlicher Partner der organisierten Arbeitnehmerschaft. Von Rente bis Mindestlohn haben wir Wort gehalten. Das war wichtig, gerade angesichts der Tatsache, dass wir Zuspruch vieler Stammwähler verloren haben. Die Wählerbindung hat in den vergangenen Jahren leider extrem nachgelassen.
"Wenn Vertrauen in Politik insgesamt sinkt, dann schadet das am stärksten der politischen Linken"
Das betrifft aber nahezu alle Parteien.
Niels Annen: Richtig, aber uns trifft es besonders hart. Es ist seit jeher schwierig, Arbeiter, Handwerker und Geringverdiener davon zu überzeugen, dass sie mit Ihrer Stimmabgabe etwas bewegen können; dass ihr Leben sich verbessert, wenn die SPD regiert. Ungerechtigkeiten wie die absurde Konzentration von Reichtum führen dazu, dass sich viele von Politik abwenden, wenn wir nicht etwas dagegen unternehmen. Die Konservativen dagegen hatten schon immer den Vorteil, dass deren Leute zur Wahl gehen, weil sie es als ihre staatsbürgerliche Pflicht verstehen. Kurzum: Wenn Vertrauen in Politik insgesamt sinkt, dann schadet das am stärksten der politischen Linken.
Wie wollen Sie das Vertrauen zurückgewinnen?
Niels Annen: Zunächst einmal sollten wir uns jetzt nicht weiter in eine Depression hineinreden. Schaut man sich an, wer die treibende Kraft dieser Koalition ist, stellt man schnell fest: die SPD hat vom ersten Tag an konkret daran gearbeitet, die Probleme der Bürger zu lösen. Sie hat gegen alle Widerstände den Mindestlohn, die Rente mit 63, die Mietpreisbremse oder auch die Entlastung der Kommunen durchgesetzt. Ich bin überzeugt, dass es sich auf Dauer auszahlt, wenn wir Kurs halten. Zugleich muss es allerdings unser Ziel sein, sozialdemokratische Politik künftig besser als solche zu kennzeichnen.
Wird innerhalb der SPD zu viel gestritten?
Niels Annen: Nein. Ich erinnere mich gut an eine Zeit- ich war gerade in den Parteivorstand gewählt worden - da gab es in der Partei wesentlich härtere Auseinandersetzungen. Die Strömungen der SPD haben regelrecht gegeneinander gearbeitet. Derartige Fronten sehe ich heute nicht mehr. Klar ist aber auch: Eine Partei, die sich nicht um den richtigen Weg streitet, ist eine langweilige Partei.
Wie viel Streit verträgt denn eine Regierungspartei?
Niels Annen: Jeder in der SPD weiß, dass wir Debatten brauchen. Wenn es um das große Ganze geht, sollten wir jedoch zusammenhalten. In einer Zeit, in der eine rechtspopulistische Partei wie die AfD bei Landtagswahlen zweistellige Ergebnisse erzielt, müssen wir Sozialdemokraten geschlossen auftreten. Ich finde, das gelingt uns zurzeit gut.
"Ich könnte viele weitere Erfolge der SPD aufzählen"
Im Jahr 2008 sprachen Sie von einer schweren Krise der SPD. Hat die Krise seitdem angehalten, sich verstärkt oder würden Sie nun von einer neuen Krise sprechen?
Niels Annen: Wären wir seitdem von einer Niederlage zur nächsten gestolpert, könnte ich Ihre Frage leicht beantworten. So ist es aber nicht! Wir haben Nordrhein-Westfalen zurückgewonnen. Wir haben die Mehrheit in der Stadt, in der ich geboren worden bin, Hamburg, zurückgewonnen. Oder denken Sie an die Wahl in Rheinland-Pfalz: Malu Dreyer wurde - entgegen der Prognosen zu Jahresbeginn - auf beeindruckende Weise in ihrem Amt bestätigt. Und: Wir stellen die meisten Ministerpräsidenten. Ich könnte viele weitere Erfolge der SPD aufzählen.
Sie sagten eingangs des Gesprächs allerdings, Sie machten sich Sorgen um Ihre Partei...
Niels Annen: Natürlich können wir nicht zufrieden sein, wenn wir in den Umfragen nicht über 25 Prozent hinauskommen. Man sollte bei aller Kritik jedoch stets daran denken, dass Europa sich derzeit in einer schweren Krise befindet. All das, was ich über Deutschland gesagt habe, zeigt sich in anderen europäischen Staaten noch viel deutlicher.
Was genau meinen Sie damit?
Niels Annen: Von den aktuellen Krisen profitieren fast überall rechtsradikale, rechtspopulistische und antieuropäische Parteien. Die Sozialdemokraten haben in nahezu allen Ländern der EU große Probleme, sich zu behaupten. In Zeiten, in denen vermeintlich einfache Lösungen versprochen werden, besser gesagt: den Wählern nationale Lösungen als gute Lösungen verkauft werden, haben es Parteien, die auf Werte wie Gemeinsinn und Solidarität setzen schwer. Ich formuliere es bewusst vorsichtig: Im europäischen Vergleich steht die deutsche sozialdemokratische Partei nicht so schlecht da.
Herr Annen, ärgert es Sie, wenn einige Ihrer Parteikollegen in dieser schwierigen Lage öffentlich darüber sprechen, wer ein guter SPD-Kanzlerkandidat wäre?
Niels Annen: Ich habe aufgehört, mich über solche Dinge zu ärgern.
Aber Sie haben eine Meinung dazu, oder?
Niels Annen: Wir haben einen Parteivorsitzenden und Vizekanzler, der das erste Zugriffsrecht hat, Punkt.
Deshalb die Frage zu den Äußerungen einiger Ihrer Kollegen. Ist es nicht genau das, was Sie seit Jahren kritisieren - dass beim Wähler in solchen Momenten der Eindruck entsteht, die SPD beschäftige sich nur mit sich selbst?
Niels Annen: Ich empfehle uns allen eine gewisse Gelassenheit. Wir wissen, der kommende Bundestagswahlkampf wird nicht einfach. Aber wenn wir die Politik der vergangenen Jahre fortsetzen und es schaffen, als eine geschlossene Formation aufzutreten, dann haben wir gute Chancen. Den Sieg von Malu Dreyer sollten wir als Ermutigung verstehen
Nicht nur die SPD steckt im Umfragetief, auch die CDU steht derzeit schlecht da. Wie sehr schadet das Projekt Große Koalition beiden Volksparteien?
Niels Annen: Natürlich schadet ein solches Bündnis auf Dauer beiden. Unsere Demokratie hat bislang gut davon gelebt, dass es zwei große Parteien gibt, denen zugetraut wurde, das Land zu regieren. Demokratie lebt von Alternativen, gerade einer linken und rechten. Es ist aber kein Geheimnis, dass wir in den Bundesländern, in denen wir Juniorpartner einer Koalition waren, bei der Folgewahl meist desaströs abgeschnitten haben. Einen Automatismus sehe ich aber auf Bundesebene nicht.
"Unser Parteiensystem ist in Bewegung"
Woher kommt Ihre Zuversicht?
Niels Annen: Weil wir im Bund präsenter sind und in den vergangenen zweieinhalb Jahren zahlreiche Erfolge erkämpft haben. Es muss unser Anspruch bleiben, eine Regierungskoalition ohne Beteiligung der Union zu erreichen.
Da drängt sich natürlich die Frage auf: Gibt es Neuigkeiten aus der Arbeitsgruppe "Rot-Rot-Grün", der Sie angehören?
Niels Annen: Konkrete Ergebnisse gibt es zurzeit nicht zu vermelden (lächelt). Mir ist allerdings aufgefallen, dass Dietmar Bartsch in seinen Reden inzwischen auf die ritualisierte SPD-Kritik verzichtet. Das war unter Gregor Gysi noch anders. Der Textbaustein "Die SPD ist schuld an allem Schlimmen in der Welt" kommt nicht mehr vor. Das ist erfreulich.
Aber?
Niels Annen: Durch Frau Wagenknecht dagegen wird vieles immer schlimmer, manche ihrer Äußerungen sind von der AfD ja kaum noch zu unterscheiden. Und solange die grundsätzliche Westbindung Deutschlands von Teilen der Linkspartei und der Bundestagsfraktion infrage gestellt wird, schließe ich ein Bündnis aus. Die Linkspartei muss ihre Haltung in der Außenpolitik endlich klären, sonst kann eine Annäherung nicht funktionieren. Das wissen die Verantwortlichen auch ganz genau.
Dennoch wollen Sie weiter daran arbeiten?
Niels Annen: Unser Parteiensystem ist in Bewegung. Neue Konstellationen werden in den Ländern erprobt. Es wäre doch unsinnig, gerade jetzt das Gespräch abzubrechen. Wir stehen in einem regelmäßigen Austausch mit einem Teil der Linkspartei. Aber auch das Gespräch mit den Grünen auf Bundesebene bleibt wichtig.
Herr Annen, Sie laden regelmäßig Besuchergruppen aus Ihrem Wahlkreis nach Berlin ein. Welche Kritik haben Sie zuletzt am häufigsten gehört?
Niels Annen: Es wird Sie vermutlich nicht überraschen. Das Hauptthema ist derzeit der Umgang mit der Flüchtlingskrise. Darüber diskutieren natürlich auch die Bürgerinnen und Bürger in meinem Wahlkreis.
Ihr Parteivorsitzender Sigmar Gabriel sagte kürzlich, er höre einen Satz immer wieder: "Für die macht ihr alles, für uns macht ihr nichts." Geht Ihnen das ähnlich?
Niels Annen: Solche Sätze höre ich hin und wieder auch. Keine Frage, es gibt diese Ängste. Das war und ist aber nicht der Grundtenor. Ich bekomme eher die Rückmeldung derer, die sich für Flüchtlinge einsetzen. Das geht quer durch alle Schichten. Fest steht: Ohne diese neue Bürgerbewegung könnte unser Gemeinwesen die Herausforderung gar nicht bewältigen. Das ist mir in der öffentlichen Debatte nach den Übergriffen von Köln im Übrigen zu kurz gekommen.
Inwiefern?
Niels Annen: Ich will keine Medienschelte betreiben. Aber manchmal wurde der Eindruck vermittelt, die Stimmung in Deutschland wäre komplett gekippt. Das entsprach zu keinem Zeitpunkt der Realität. Klar ist aber auch: Die Hemmschwelle bei den Kritikern ist gesunken.
Gabriel forderte ein neues Solidaritätsprojekt für Deutsche - halten Sie den Vorstoß für politisch klug?
Niels Annen: Ich unterstütze diesen Vorstoß. Im Übrigen: Die SPD legt seit ihrer Gründung Wert darauf, dass bei uns jeder Bürger seine Sorgen äußern kann.
Wo ziehen Sie die Grenze?
Niels Annen: Immer dann, wenn Menschenverachtendes verbreitet wird. Ich toleriere keinerlei Form rechter Hetze und scheue im Zweifelsfall auch nicht den Gang zur Polizei. Gleichzeitig halte ich es für extrem wichtig, dass die Bürgerinnen und Bürger, beispielsweise in Bürgerversammlungen, ihre Sorgen, Ängste und Anliegen mitteilen können. Und genau so habe ich Sigmar Gabriel auch verstanden. Er hat Recht, wenn er sagt: "Wir müssen diejenigen sein, die darauf achten, dass Gruppen nicht gegeneinander ausgespielt werden".
Genau das werfen Ihre politischen Konkurrenten Sigmar Gabriel vor.
Niels Annen: Es kommt doch auf die Substanz an. Sigmar Gabriel verfolgt eine Linie, die Olaf Scholz in Hamburg in gewisser Weise vorgezeichnet hat. Dass mein Parteivorsitzender sich rhetorisch und in seiner Art von meinem Hamburger Bürgermeister unterscheidet, ist kein Geheimnis (lächelt). Jeder tickt eben anders.
Apropos Olaf Scholz: Wie erklären Sie dessen Erfolg in der Hansestadt?
Niels Annen: Er hat im Wahlkampf nur die Erwartungen geweckt, von denen er wusste, dass er sie auch erfüllen kann. Das schafft Vertrauen. Der Stil, sich alles Stück für Stück zu erarbeiten und dabei nüchtern und zielstrebig sozialdemokratische Politik umzusetzen, kommt bei den Menschen gut an. Deshalb sind wir als SPD hier in Hamburg - trotz der Schwierigkeiten auf Bundesebene - in einer starken Position.
Bescheidenheit als Erfolgsrezept?
Niels Annen: Olaf Scholz geht nicht jede Woche in eine Talkshow. Er klopft auch nicht ständig große Sprüche, sondern spricht stets über das, was er beeinflussen kann. Damit löst er zwar nicht jede Woche Schlagzeilen aus, löst aber konkrete Probleme. Und er bleibt sich treu. Das ist authentisch. Mir gefällt das.