"Sagt den Menschen die Wahrheit": Weniger Kriegsbegeisterung in Russland
Während der Winter naht, kostet die überstürzte russische Mobilmachung viele zusätzliche Leben. Bisher kremltreue Blogger gehen zum Protest über. In Interviews berichten Überlebende von den Zuständen an der Front.
Aleksei Agafonov hat es geschafft, die Anonymität zu durchbrechen. Und das, so sieht es aus, für den Moment sogar mit beachtlicher Reichweite. Dem britischen Guardian gab der kürzlich erst eingezogene russische Rekrut ein Telefoninterview. Zahlreichen anderen jungen Männern in Putins Knochenmühle, denen ein sinnloser Tod winkt, gibt er damit eine Stimme.
Vorweg gesagt: Hier geht es nicht darum, eine Gegenrechnung aufzumachen und die monströsen Verluste auf ukrainischer Seite, sei es unter Streitkräften oder unter der Zivilbevölkerung, in irgendeiner Form zu relativieren. Thema ist hier die offenkundig dilettantische Mobilmachung auf russischer Seite. Sie zeigt im Brennglas die Geringschätzung von Menschenleben.
"Es war die Hölle"
Agafonov war den Berichten zufolge am 16. Oktober, zusammen mit 570 anderen Wehrpflichtigen, in Woronesch einberufen worden. Eine Stadt im Südwesten Russlands. Die Teilmobilmachung war ausgerufen. Bei der landesweiten Mobilisierungskampagne von Wladimir Putin geht es um den Einsatz von mehr als 300.000 Männern. Und es geht um das große Sterben, hier der eigenen Leute.
Das betrifft Männer wie Agafonov. Mit seinem Bataillon traf er am 1. November in der Region Luhansk ein. Wie er im Interview schildert, mussten er und seine Kameraden Schützengräben mit Spaten ausheben. Dann kam eine ukrainische Drohne, kurz darauf vernichtendes Trommelfeuer:
Ich habe gesehen, wie die Männer vor meinen Augen in Stücke gerissen wurden, der größte Teil unserer Einheit ist weg, ausgelöscht. Es war die Hölle.
Aleksei Agafonov
Nach dem stundenlangen Angriff habe er sich mit einem Dutzend anderer Überlebender ins nahegelegene Svatove zurückgezogen und versucht, Kameraden zu kontaktieren. Wie viele von denen gab es überhaupt noch? Der Guardian schreibt:
Nach Agafonovs Schätzungen überlebten nur 130 der 570 Wehrpflichtigen dieses Einsatzes den ukrainischen Angriff, was ihn laut Guardian um tödlichsten bekannten Zwischenfall mit Wehrpflichtigen seit Beginn der Mobilisierungskampagne machen würde.
Guardian
Agafonov weiter: "Und viele, die überlebt haben, verlieren nach den Ereignissen den Verstand". Kommandeure der Einheit hätten ihre Leute kurz vor Beginn des Artillerieangriffs im Stich gelassen. Ein zweiter Soldat, der laut Guardian anonym bleiben möchte, wird mit den Worten zitiert: "Wir waren völlig ungeschützt, wir wussten nicht, was wir tun sollten. Hunderte von uns starben".
"Habt ihr schon wieder gelogen?" Blogger gehen auf Abstand
Auch wenn solche Aussagen einzelner Soldaten aufgrund der Umstände schwer objektivierbar sein dürften, machen sie die Runde und zeigen einen desillusionierten Blick auf das Kriegsgeschehen.
Unterdessen gehen auch patriotisch gesinnte Blogger – eigentlich Kriegsbefürworter – auf Abstand zur staatlichen Kriegspropaganda. Während Russlands Präsident Wladimir Putin von "vielen Freiwilligen" spricht und deren heldenhaften Einsatz lobt, rücken damit in den sozialen Medien sogar krasse Befürworter:innen der "Spezialoperation" zumindest ein Stück weit von den ausgerufenen Parolen ab.
Eine viel gelesene Militärbloggerin ist Anastasia Kashevarova. Sie ist gut vernetzt, 180.000 Abonnenten folgen ihr auf Telegram. Sie schreibt:
Das Ergebnis der Mobilisierung ist, dass ungeschulte Jungs an die Front geworfen werden. Zinksärge werden bereits nach Tscheljabinsk, Jekaterinburg und Moskau zurückgeschickt. Ihr habt uns gesagt, sie würden eine Ausbildung bekommen. (…) Habt ihr schon wieder gelogen? (…) Sagt den Menschen die Wahrheit.
Bloggerin Anastasia Kashevarova
Das russische Nachrichtenportal Verstka greift den Bericht eines weiteren Soldaten, Nikolai Woronin, auf. Er schilderte in ähnlicher Weise, was er in den frühen Morgenstunden des 2. November erlebte.
Es gab viele Tote, sie lagen überall (…). Ihre Arme und Beine waren abgerissen (…). Die Schaufeln, mit denen wir unsere Gräben ausgehoben hatten, wurden nun benutzt, um die Toten zu bergen.
Nikolai Woronin laut Nachrichtenportal Verstka
Schlecht ausgerüstet, schlecht ausgebildet
Solche und andere Schreckensmeldungen machen die Runde und erregen die Gemüter. Unter anderem kommt immer wieder zur Sprache, dass die im Eiltempo Rekrutierten in nur fünf bis zehn Tagen "ausgebildet" wurden, viele würden "mit nur einem Tag Training in die Ukraine geschickt". Hunderte Tote an einem Tag: eine barbarische Logik.
Propagandaaufnahmen zeigen eine russische Einheit bei einer Übung, die Anfang November bei einer Offensive südwestlich von Donezk in wenigen Tagen ähnlich viele Männer verloren haben soll. Die Rede ist von der 155. Marineinfanterie-Brigade der russischen Pazifikflotte, eigentlich eine Vorzeigetruppe. In einem Video (t-online: "An diesen Orten erleben Putins Soldaten ein Fiasko", 2:08 min) heißt es: Russische Blogger melden, 300 der 1.800 Männer seien in nur vier Tagen gefallen. Zudem soll die Einheit mehr als die Hälfte ihrer Ausrüstung verloren haben.
Offenbar gerät der Kreml mehr und mehr unter Druck, denn der Winter kommt – und damit Frost und zuvor schon die gefürchteten schlammigen Böden, die es schwierig bis unmöglich machen werden, schweres Gerät in die umkämpften Gebiete zu bringen.
Fluchtpunkt: Türkei
Viele flohen (oder fliehen, soweit noch möglich) ins Ausland, um der Einberufung zu entgehen. Die Türkei ist dabei bevorzugter Fluchtort. Wie der Kölner Stadt-Anzeiger (KStA) in seiner aktuellen Ausgabe schreibt, landen täglich Maschinen aus Moskau, St. Petersburg oder Sotschi in Antalya. Das geht, weil die Türkei als einziges Nato-Land die westlichen Sanktionen nicht umsetzt: Täglich gibt es 100 bis 120 Flüge zwischen russischen und türkischen Flughäfen. Die Nachfrage ist groß.
Westlichen Schätzungen zufolge sind seit Putins Mobilmachung etwa 400.000 Russen aus ihrer Heimat geflohen. Für die Einreise in die Türkei reicht zunächst lediglich ein gültiger Pass. Der Kölner Stadt-Anzeiger spricht von mehr als 170.000 russischen "Gästen", die allein im September per Flug über Antalya ins Land einreisten.
Wie viele hierher vor der Rekrutierung geflüchtet sind, ist allerdings schwer zu schätzen, Statistiken dazu gibt es keine. Inzwischen sind die Kontrollen in Russland aber verschärft. Eine Ausreise für Männer zwischen 18 und dem Renteneintrittsalter wird immer schwieriger – und damit auch die Chance, einem sinnlosen Tod auf dem Schlachtfeld zu entkommen.
Aktuell vermelden Medien gerade den Rückzug russischer Truppen aus Cherson nach heftigen Verlusten. Und zitieren dabei den Satz des russischen Verteidigungsministers Schoigu, der die Räumung so erklärt: "Das Leben und die Gesundheit der Soldaten der Russischen Föderation waren immer eine Priorität." Ein kaum zu überbietender Zynismus angesichts der enthemmten Geringschätzung menschlichen Lebens.