Sanders knapp vorne in Iowa
Wahrscheinlicher Sieg des Sozialisten lässt in den Chefetagen der Demokratischen Partei die Alarmglocken schrillen
Das Desaster bei der Vorwahl in Iowa will kein Ende nehmen. Noch immer sind die Endergebnisse der ersten Abstimmung über den Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei nicht bekannt, da die Parteiführung mit massiver Verspätung nur Teilergebnisse veröffentlicht. Nach Auszählung von rund 71 Prozent der Wahlbezirke (Stand Mittwochmittag mitteleuropäischer Zeit) führt der Sozialist Bernie Sanders knapp vor dem ehemaligen Bürgermeister von South Bend, Indiana, Pete Buttigieg, der dem rechten, unternehmerfreundlichen Parteiflügel zuzurechnen ist.
Für Verwirrung, vor allem innerhalb der deutschen Medienschaffenden, scheinen die Modalitäten des Abstimmungsverfahrens in Iowa zu sorgen. Die Wahlbestimmungen in Iowa sehen zwei Wahlgänge vor: Beim ersten Wahlgang entscheiden sich alle Teilnehmer der Vorwahlen für ihren Kandidaten, beim anschließenden zweiten Urnengang können diejenigen Wähler, deren Kandidat weniger als 15 Prozent der Stimmen erhielt, einem anderen Anwärter ihre Stimme geben.
Nach Auszählung von 71 Prozent der Wahlbezirke führt Bernie Sanders in Iowa sowohl nach dem ersten wie nach dem zweiten Urnengang vor Buttigieg. Nach der ersten Wahlrunde verzeichnete Sanders 31,3 Prozent der Stimmen, Buttigieg 27,4 Prozent, Warren 24 Prozent, Biden 18,8 Prozent. Nachdem die Wähler der unterlegenen Politiker, die weniger als 15 Prozent der Stimmen erhielten, sich neue Kandidaten suchten, führte Bernie mit 32,6 Prozent vor Buttigieg mit 31,3 Prozent. Warren kam auf 25,6, Biden auf 16,4 Zähler. Sanders' Vorsprung gegenüber Buttigieg beträgt 1320 Wählerstimmen bei Auszählung von 71 Prozent der Wahlbezirke.
Wie kommt es nun, dass der Kandidat der Parteirechten, Pete Buttigieg, allenthalben in den Medien als der große Sieger von Iowa gefeiert wurde? Obwohl er nach dem zweiten Wahlgang mit über einem Prozentpunkt bei den Wählerstimmen zurückliegt, führt Buttigieg bei den sogenannten Wahlmännerstimmenanteilen - und nur diese wurden in den Medien angegeben.
Jeder Wahlbezirk verfügt in Iowa über eine bestimmte Anzahl von Wahlmännerstimmenanteilen, die zu der Verteilung der Delegierten beitragen, die auf dem Parteitag der Demokraten den Präsidentschaftskandidaten wählen sollen. Da sich aber die Wahlmännerstimmenanteile nicht gänzlich mit der Bevölkerungszahl der Bezirke decken, kommen solche Verzerrungen des Wählerwillens zustande. Bislang liegen Sanders und Buttigieg bei der Anzahl der konkreten Delegierten, die in Iowa für den Nominierungsparteitag errungen werden konnten, übrigens mit jeweils zehn gleich auf.
Deutsche Medien scheinen das Narrativ der US-Medien zu übernehmen
Versuche in den US-Medien, diese undemokratische Diskrepanz zu erklären, arteten mitunter zu einer Realsatire aus, bei der selbst Experten in Erklärungsnot gerieten. MSNBC etwa mutmaßt, dass die ländlichen, eher konservativ geprägten Landkreise ein gewisses Übergewicht bei den Wahlmännerstimmenanteilen haben, das den demographischen Gegebenheiten nicht entspricht.
Von daher verbreiten insbesondere die deutschsprachigen Massenmedien eine verzerrte Sicht der Dinge, wenn sie - parallel zum Narrativ der großen Medienkonzerne der USA - schreiben, Buttigieg hätte in Iowa mehr Stimmen erhalten als Sanders. Sowohl Spiegel-Online als auch Zeit-Online gaben die prozentuale Führung von Buttigieg bei den Wahlmännerstimmenanteilen an, behaupteten aber, hier handele es sich um die tatsächlichen Stimmen. Auch die Behauptung der Faz, Buttigieg würde bei den Delegiertenstimmen führen, ist falsch - hier herrschte bei der Veröffentlichung dieser Berichte ein Patt von zehn zu zehn.
Die meinungsbildenden Medien der Bundesrepublik scheinen das Narrativ der US-Medien zu übernehmen, die sich ebenfalls auf eben das einzige Ergebnis der Urnengangs konzentrierten, bei dem Sanders nicht führt (er führt ja bei den tatsächlich abgegebenen Stimmen und liegt gleichauf bei den Delegierten).
Verzögerungstaktik?
Innerhalb der Sanders-Kampagne, die bislang öffentliche Kritik an dem Vorgehen der Demokratischen Partei vermied, nimmt indes die Frustration mit der Verzögerung bei der Veröffentlichung der Ergebnisse zu. Man ist immer noch überzeugt, dass Sanders bei Veröffentlichung des Endergebnisses auch bei den Wahlmännerstimmenanteilen vorne liegen würde - nur dass dieser Sieg dann von anderen Nachrichten überlagert wird.
Diese Verzögerungen, die den Eindruck einer Taktik hervorrufen können, lassen den Unmut im progressiven Lager auch vor dem Hintergrund des Skandals um die dubiose Smartphone-Anwendung ansteigen, die zum Wahlchaos von Iowa beitrug. Diese Anwendung ist in einem intransparenten Prozess von ehemaligen Clinton-Beratern entwickelt und von der Buttigieg-Kampagne kofinanziert worden (Telepolis berichtete). Inzwischen hat die demokratische Partei Nevadas angekündigt, auf diese umstrittene Software zu verzichten.
Absturz von Biden, Sanders ist Favorit
Der Absturz des Favoriten der Parteirechten, Joe Biden, scheint aber das wichtigste Ergebnis von Iowa zu sein, das Bernie Sanders in seiner Favoritenrolle bestärkt. Für den einstigen Hoffnungsträger des Parteiestablishments dürften die Vorwahlen bereits gelaufen sein. Inzwischen scheint sich auch die New York Times der Einschätzung anzuschließen, wonach im neoliberalen "Zentrum" der Partei sich Panik breitmache - und die aufstrebende sozialistische Parteilinke sich letztendlich durchsetzen werde. Zumal Pete Buttigieg in Iowa mit seiner überwiegend konservativ-weißen Bevölkerung einen gewissen Regionalbonus verzeichnen konnte, da er ebenfalls aus dem nördlichen Mittleren Westen der USA stammt.
In den landesweiten Umfragen liegt der smarte Ex-Bürgermeister, der sich über die finanzkräftige Unterstützung mehrerer Dutzend Milliardäre, Unternehmensberater und Konzernchefs freuen kann, weit abgeschlagen im einstelligen Bereich. Landesweit konnte hingegen Sanders die Führung bei den Umfragen übernehmen: Er lag kurz vor Iowa mit 27 zu 26 Zählern vor Joe Biden, gefolgt von der liberalen Kandidatin Elizabeth Warren (15 Prozent) und dem Milliardär Bloomberg (neun Prozent). Buttigieg kam auf sieben Zähler.
Auch bei den kommenden Vorwahlen in New Hampshire ist Sanders Favorit, er verfügt über einen Vorsprung von acht Prozentpunkten auf Joe Biden. Gute Chancen hat der Sozialist aus Vermont auch in Nevada und Kalifornien. Bei Wahlumfragen, bei denen die Chancen der demokratischen Kandidaten gegenüber Donald Trump ermittelt werden, schneidet Sanders ohnehin am besten ab.
Panik in den Chefetagen der Demokratischen Partei vor dem Sozialisten
Diese realistischen Chancen des sozialistischen Kandidaten auf die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten lassen indes in den Chefetagen der Demokratischen Partei die Alarmglocken schrillen. Inzwischen wird in den bedrängten neoliberalen Führungszirkeln der Partei diskutiert, schnell "neue" alte Kandidaten als eine Art Politzombie zu reanimieren, um die Dynamik der Sanders-Kampagne zu brechen.
John Kerry, der 2004 als Präsidentschaftskandidat der Demokraten gegen George W. Bush unterlag, soll eine Quereinstieg ins Rennen ums Präsidentenamt erwägen, da Sanders die "ganze Partei mit sich zu nehmen" drohe. Der Ehemann der Heinz-Ketchup-Erbin Teresa Heinz (Privatvermögen von bis zu einer Milliarde US-Dollar) soll sich gar mit den Gedanken getragen haben, hierfür einen Posten im Vorstand der Bank of America aufzugeben.
Zudem gibt es Überlegungen innerhalb der Demokratischen Partei, die "Spielregeln" des Nominierungsparteitags abermals zu ändern, um Sanders zu verhindern, wie Politico berichtete. Eine Gruppe innerhalb des Democratic National Committee (DNC) plane, die Sanders-Kampagne erst zu "schwächen", um dann die Regeln bezüglich der sogenannten "Superdelegierten" zu ändern, die nicht gewählt, sondern von der Parteiführung ernannt werden - und die nach den Erfahrungen mit den Manipulationen des Jahres 2016 (Die gelenkte Vorwahl) diesmal erst im zweiten Wahlgang abstimmen dürften.
Diese Gruppe innerhalb des DNC will nun zur alten Regelung zurück, wonach die von dem DNC ernannten Superdelegierten schon im ersten Wahlgang ihre Stimmen abgeben dürfen. Die Führung des DNC treibt schlicht die Sorge um, dass Sanders einen so großen Vorsprung aufbaut, dass er schon im ersten Wahlgang die zur Nominierung notwendige Mehrheit erhält, ohne dass der Parteiapparat mit seinen selbsternannten Superdelegierten intervenieren kann.
Des Weiteren bemühen sich die neoliberalen Kräfte in der Demokratischen Partei darum, den Oligarchen Bloomberg als eine zugkräftige Alternative zu Biden aufzubauen. Kurz nach dem Wahlfiasko von Iowa kündigte der Milliardär an, seine schon astronomischen Ausgaben für Wahlwerbung nochmals zu kräftig zu erhöhen. Nachdem er mehr als 100 Millionen US-Dollar für Fernsehwerbung in einer historisch beispiellosen Werbekampagne investierte, sagte Bloomberg, diese Aufwendungen, die sich bis Anfang März ursprünglich auf 300 bis 400 Millionen Dollar summieren sollten, nochmals zu verdoppeln. Bei einem geschätzten Vermögen von 60 Milliarden US-Dollar handelt es sich immer noch um ein Taschengeld, mit dem Bloomberg in oligarchischer Tradition Wahlen schlicht kaufen will.
Zugleich will die Parteirechte um jeden Preis die Kontrolle über den Nominierungsparteitag ausbauen. Tom Perez, der umstrittene Vorsitzende des DNC, hat das Nominierungskomitee für den Parteitag mit neoliberalen Ideologen, Wall-Street-Beratern, Unternehmenslobbyisten und außenpolitischen Hardlinern besetzt, die die Sanders-Agenda torpedieren sollen. Viele dieser Funktionäre im Nominierungskomitee agieren zugleich auch als "Superdelegierte", die es bei einem eventuellen zweiten Wahlgang in der Hand hätten, Sanders bei einer knappen Führung im Vorwahlkampf zu verhindern.
DNC-Chef Perez befindet sich ohnehin nach dem Debakel von Iowa unter massivem Beschuss seitens der Parteilinken, die seinen Rücktritt fordern. Nicht nur die Verzögerungen bei der ersten Vorwahl werden ihm angelastet, sondern auch eine plötzliche Änderung bei den Zulassungsregeln zu den Fernsehdebatten der Demokraten. Das DNC änderte die Regeln genau so, dass plötzlich der Oligarch Bloomberg an ihnen teilnehmen darf, der zuvor von den Debatten ausgeschlossen war. Überdies wurde Ende Januar bekannt, dass Bloomberg dem DNC zwei Tage vor Bekanntgabe seiner Kandidatur 300.000 US-Dollar spendete.
Es entstand somit der Eindruck, dass Bloomberg sich nach Oligarchenart einfach politischen Einfluss kaufen würde. Eine Beraterin aus dem Team von Bernie Sanders artikulierte diesen Vorwurf gegenüber Medienvertretern, um sich dann mit empörenden Reaktionen der Journalisten des als "liberal" geltenden Senders MSNBC konfrontiert zu sehen.
Im Lichte dieser Blockadehaltung des Parteiestablishments argumentierte, der britische The Guardian, dass es eigentlich nicht Trump sei, der für Sanders die größte Hürde auf dem Weg ins Weiße Haus darstelle, sondern gerade die neoliberale Machtmaschine innerhalb der Demokratischen Partei.
Es ließe sich gar argumentieren, dass das neoliberale Parteiestablishment Sanders nur um den Preis einer Niederlage gegen Trump verhindern kann, da kein anderer Kandidat dermaßen gute Chance gegen den Rechtspopulisten im Weißen Haus hat. Die kommenden Wochen werden zeigen, ob die neoliberale Führung der Demokratischen Partei dazu bereit ist. Die ersten Pöbeleien Trumps, der das wahltaktisch motivierte Chaos von Iowa propagandistisch ausschlachtete, lassen Schlimmes befürchten.