Sardinen statt Dorsch

Die Insel. Scharhörn in der Helgoländer Bucht am 1. April 1994 bei einer Sturmflut (ca 1,75m ü. MTHW). Bild: Aeroid, CC BY-SA 3.0

Zunehmende Temperaturen, der steigende Meeresspiegel und invasive Arten haben die Nordsee bereits dramatisch verändert. Mitte des Jahrhunderts wird die Wassertemperatur schon 2,5 Grad wärmer sein

In der Nordsee gibt es neuerdings Austernriffe. Crassostrea gigas, wie die Pazifische Auster unter Biologen heißt, ist eigentlich vor den Küsten Koreas und Japans zu Hause. Austernfischer setzten sie Mitte der 1980er-Jahre vor Sylt in Drahtkörben im Wattenmeer aus. Damals glaubten die Züchter, das kalte Wasser der Nordsee genüge zwar zum Wachstum, nicht aber zur Fortpflanzung.

"Seit 1962 ist die Jahresmitteltemperatur der Nordsee um 1,7 Grad gestiegen", sagt Karen Wiltshire, Vize-Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts und Leiterin der Außenstelle auf Sylt. Es gibt jetzt beste Bedingungen für die Auster aus Asien.

Ein defekter Drahtkorb und der Klimawandel genügten, um das Leben im Wattenmeer komplett umzukrempeln: Das aggressive Ausbreiten der Pazifische Auster hat die einheimische Miesmuschel großflächig verdrängt und damit ganze Nahrungsketten in Gefahr gebracht.

Heimische Enten oder Möwen ernähren sich von Miesmuscheln, die dicken, sperrigen Schalen der fremdländischen Austern können sie hingegen nicht knacken.

Zudem leiden die Miesmuscheln unter den steigenden Temperaturen: Sie vermehren sich nur nach eisigen Wintern richtig gut, weil ihre Feinde, junge Krebse, Kälte nicht ertragen. Aber diese Winter werden immer seltener, deshalb überleben plötzlich Arten, die früher in der Nordsee keine Chance hatten.

Die Rippenqualle oder Mnemiopsis leidyi beispielsweise, ursprünglich in subtropischen Atlantikgewässern heimisch, wurde 2006 sie erstmals vor Helgoland gesehen. Seitdem geht sie nicht wieder weg.

"Wir messen, dass sich die Nordsee doppelt so schnell aufheizt wie die globalen Ozeane", sagt Wiltshire. Vermutlich liege das daran, dass das Schelfmeer mit einer Durchschnittstiefe von nur 94 Metern relativ flach ist und viele Flüsse darin münden.

Den Prognosen zu Folge wird sich das Nordseewasser Mitte des Jahrhunderts um wenigstens 2,5 Grad im Vergleich zum 19. Jahrhundert erwärmt haben. Über Land werden sich in Mitteleuropa die Temperaturen dagegen bis dato "nur" um zwei Grad aufheizen.

Einst typischen Arten wie dem Kabeljau ist es in Teilen der Nordsee bereits zu warm geworden. Für seine Fortpflanzung braucht der Dorsch, wie er als Jungtier heißt, eine Wassertemperatur von um die drei Grad.

Die findet er hier immer seltener und wandert gen Norden Richtung Polarmeer. Auch der Seelachs habe sich zurückgezogen, berichten Forscher, ebenso der Blaue Wittling, eine kommerziell wichtige Art für die Nordseefischerei. Er wird zu Fischöl und Fischmehl verarbeitet.

Thunfisch und Kalmare in den Netzen

Die Fischereibranche merkt die klimatischen Veränderungen längst: Statt kälteliebender Speisefische wie Makrele oder Kabeljau findet sie zunehmend Thunfisch oder Kalmare in ihren Netzen.

In der südlichen Nordsee werden Sardinen bereits gezielt befischt, 50 Tonnen wurden 2019 gefangen. Doch verglichen mit den immer noch knapp 400.000 Tonnen Nordsee-Hering ist das Sardinen-Geschäft kaum von Bedeutung. Die Fänge der Neuankömmlinge sind noch zu sporadisch, um die klimabedingten Verluste bei den früheren Fangarten auch nur annähernd auszugleichen.

Eine Untersuchung heimischer Fischarten ergab, dass bereits die Hälfte vor dem warmen Wasser geflüchtet ist. Vor allem während der Fortpflanzung reagieren viele Arten sensibel auf Temperaturveränderungen: Erwachsene Fische können sogar mit einem Plus von bis zu zehn Grad klarkommen, Embryos oder Larven nicht.

Die Erwärmung der Ozeane könne deshalb in diesem Jahrhundert weltweit bis zu 60 Prozent aller Fischarten in Bedrängnis bringen, warnen Forscher.

"Kein Meer hat sich so stark verändert wie die Nordsee", urteilt Wissenschaftlerin Karen Wiltshire. Das liege unter anderem daran, dass die Gezeiten den Lebensraum Nordsee besonders prägen. "Wenn der Meeresspiegel weiter steigt, werden wir kein Watt mehr haben", warnt sie. Ein höherer Wasserstand bedeutet, dass bei Ebbe weniger Flächen trockenfallen; langfristig kollabiert das Ökosystem.

Die Erderhitzung lässt die Meere steigen; zum einen dehnt sich wärmeres Wasser aus, zum anderen schmelzen Gletscher und Eispanzer wie das Grönländische Eisschild. Dort schmolzen im Jahr 2019 rund 600 Kubikkilometer Eis weg, ein Block von Hamburg nach München, 100 Meter breit und zehn Kilometer hoch, so hoch, wie Flugzeuge fliegen.

Und was auf Grönland verschwindet, schwappt irgendwann auch an unsere Küsten. Der Pegel Cuxhaven an der deutschen Nordseeküste liegt heute bereits rund 40 Zentimeter höher als zu Beginn seiner Messung im Jahr 1843.

"Noch ist der Meeresspiegelanstieg beherrschbar, zumindest in unseren Breiten", sagt Jochen Hinkel, einer der Leitautoren des IPCC Sonderberichts zu Meeren und Eismassen. Deutschland investiert viel Geld in den Küstenschutz, allein das Bundesland Schleswig-Holstein gab seit 1962 mehr als drei Milliarden Euro aus.

"Ein höherer Meeresspiegel birgt aber zum Beispiel die Gefahr intensiverer Sturmfluten", sagt Hinkel. Zwar zeigen die Klimamodelle keine Zunahme bei der Häufigkeit, aber wegen des gestiegenen Meeresspiegels laufen künftige Sturmfluten höher auf.

Höhere Wahrscheinlichkeit für Sturmfluten

Eine Sturmflut, wie sie Anfang dieses Jahrhunderts mit einer Wahrscheinlichkeit von einmal in fünfzig Jahren aufs Land zuraste, gebe es ab 2050 bereits einmal alle zehn Jahre. Hinkel: "Geht das so weiter, wird eine - heute - schwere Sturmflut Ende des Jahrhunderts fast normal sein, das heißt alle fünf Jahre über uns hereinbrechen."

Wachsen die Treibhausgas-Emissionen ungebremst weiter, dann werden die Meeresspiegel nach Erhebungen des Weltklimarates IPCC bis Ende des Jahrhunderts um bis zu 1,10 Meter steigen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben im Detail simuliert, was das für einzelne Regionen bedeuten; die US-Organisation Climate Central baute aus diesen Daten und Modellergebnissen eine interaktive Landkarte, die die Folgen verdeutlichen: Im Jahr 2050 ist die Perlenkette der ostfriesischen Inseln, Borkum, Juist, Norderney, Baltrum, Langeoog, Spiekeroog, Wangerooge, Mellum fast komplett rot - von Überflutung bedroht.

2070 kommen Emden, Wilhelmshaven, Bremerhaven, weite Teile Bremens und Hamburgs hinzu. 2100 ziehen sich die roten Flächen bis weit ins Binnenland - bis Papenburg, Aurich, Oldenburg und Itzehoe, oder die Elbe hinauf bis hinter Hamburg fast nach Lüneburg.

Einen Anstieg um wesentlich mehr als die vom IPCC genannten 1,10 Meter bis Ende des Jahrhunderts kann die Forschung tatsächlich aber nicht ausschließen - unter anderem, weil sie noch nicht weiß, wie schnell die Eisschilde Grönlands und der Antarktis schwinden werden. Diese Eismassen gelten als Kippelement, das Grönlandeis ist beispielsweise mehr als 3.000 Meter hoch.

Wie auch bei uns in den Bergen ist es oben dort kühler als im Tal: Der Eispanzer schmilzt somit nach unten in immer wärmere Schichten. Einmal angefangen, kann das Schmelzen nie wieder angehalten werden. Ist das Grönlandeis verschwunden, liegt der weltweite Meeresspiegel sieben Meter höher.

Forscher aus den Niederlanden und vom Geomar-Institut in Kiel haben deshalb den kühnen Plan entwickelt, die Nordsee mit gigantischen Dämmen vom Atlantik abzutrennen und so auch gleich noch die Ostsee vor dem Anstieg des Meeresspiegels zu schützen. 637 Kilometer Sperranlagen müssten gebaut werden, der eine Damm zwischen Frankreich und England, der andere zwischen Norwegen und Schottland - mindestens 50 Meter breit und 100 bis 320 Meter hoch (also tief).

Auf rund 550 Milliarden Euro taxierten die Wissenschaftler die Kosten. Damit sei das Giga-Projekt wesentlich billiger, als wenn alle Anrainerstaaten von Nord- und Ostsee ihre eigenen Küsten mit Deichen schützen wöllten.