Schießen statt Reden: Warum die Diplomatie in der Ukraine versagt hat
Seite 2: "Es wird nicht mehr gesprochen, es wird nur noch geschossen"
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Zusammengenommen hätten die Anerkennung der Krim als russisches Territorium, die Anerkennung von Russisch als offizielle Sprache in den Donbass/Luhansk-Regionen, die Verpflichtung der Ukraine auf Unabhängigkeit und die Akzeptanz eines nicht-nuklearen Status der Ukraine ein starkes Verhandlungsangebot dargestellt, das die russische Seite unter Druck gesetzt hätte, sich von ihren Maximalforderungen fortzubewegen und ihrerseits Konzessionen zu machen. Mit den aufgezählten Punkten wäre die ukrainische der russischen Seite in einigen Bereichen entgegengekommen.
Die bloße Unterbreitung eines ernstzunehmenden Verhandlungsangebots seitens der Ukrainer hätte auch zu einem Waffenstillstand oder zumindest zu einer Feuerpause beitragen können. Selbst wenn die russische Seite sich auf so ein Angebot hin nicht bewegt hätte, wäre es doch zum Vorteil der ukrainischen Seite gewesen, solche Konzessionen zu unterbreiten, weil sie sich damit – im Gegensatz zur russischen Seite – als verhandlungs- und damit friedenswillig erwiesen hätte.
Aber möglicherweise glaubt man in Kiew, dass man eine solche moralische Besserstellung nicht braucht, weil man ohnehin auf der besseren und gerechteren Seite steht. Zu diesem Bild tragen die Berichte von Gräueln, die von der russischen Seite an der ukrainischen Zivilbevölkerung begangen wurden, ebenso bei wie die Heldenmythen, die um den ukrainischen Präsidenten Selenskyj und um die ukrainische Armee gestrickt werden.
Die amerikanischen Beteuerungen, man wolle sich in die ukrainischen Positionen hinsichtlich potentieller Gebietsabtretungen nicht einmischen und respektiere die Entscheidung der ukrainischen Regierung, keine territorialen Konzessionen an Russland machen zu wollen, ist scheinheilig.
1. Sind die USA bereits sehr tief in den Konflikt involviert: als militärische Ausbilder, Berater, Finanziers, Lieferanten, und als militärischer Aufklärungsdienst, der die ukrainische Seite mit Echtzeit-Informationen hinsichtlich russischer Truppenbewegungen, -stationierungen und Schiffspositionen versorgt.
2. In anderen Regionen der Welt (siehe Mittlerer Osten) sind die Amerikaner nicht gerade zimperlich gewesen, wenn es um die Einflussnahme auf ausländische Regierungen ging. Sie üben sich nun in nobler Zurückhaltung, weil die Weigerung der ukrainischen Seite, über Gebietsabtretungen überhaupt nur zu reden, ihren eigenen Interessen entspricht.
Wer an einer langfristigen Schwächung Russlands interessiert ist, dem kann an einem raschen Verhandlungserfolg und einer bald zu schließenden Friedensvereinbarung nicht gelegen sein. Denn der Krieg in der Ukraine ist das Mittel für die angepeilte militärische und ökonomische Schwächung Russlands. Ein baldiger Friedensschluss würde weite Teile des russischen Militärs intakt lassen und wahrscheinlich eine Abmilderung der gegen Russland gerichteten wirtschaftlichen Sanktionen zur Folge haben.
Damit würde auch die schnelle Abkehr Europas von russischen Rohstoffen, insbesondere von russischem Gas und Öl weniger dringlich werden. Die ganze strategische und wirtschaftliche Neuausrichtung des Westens und die Verbannung Russlands in den Paria-Status würden damit in Frage gestellt.
Inzwischen ist die Diplomatie völlig zusammengebrochen. Es wird nicht mehr gesprochen, es wird nur noch geschossen. Im Westen herrscht Einigkeit darüber, dass man den Konflikt militärisch lösen will. Darauf weist das exorbitante Budget von 33 Milliarden Dollar hin, das seitens der Biden-Regierung Ende April zur militärischen, ökonomischen und humanitären Unterstützung der Ukraine beschlossen wurde.
Wer davon vor allem profitieren wird, ist die amerikanische Rüstungsindustrie. Die Rüstungsindustrien in anderen Ländern, nicht zuletzt in Deutschland, wo die Regierung eine deutliche Aufstockung des Rüstungsetats beschlossen hat, werden ebenfalls einen starken Anstieg staatlicher Aufträge verbuchen.
Wenn die Weichen einmal auf Krieg und Eskalation gestellt sind, ist davon nur schwer wieder loszukommen – auch wegen den wirtschaftlichen Dynamiken, die mit der allgemeinen Aufrüstung in Gang gesetzt werden. So ein militärisch-industrieller Komplex – ein treffender Begriff, der von dem früheren US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower mit warnendem Fingerzeig für die enge Verbandelung von Rüstungsindustrie und Militär eingeführt wurde – ist ein gefräßiges Tier, das kontinuierlich gefüttert werden will.
Fazit
So wie die westliche Diplomatie zurzeit agiert, kann der Eindruck entstehen, dass an einer baldigen diplomatischen Lösung des Konflikts kein Interesse besteht, dass man sich mit dem Krieg nicht nur abgefunden, sondern bewusst für ihn entschieden hat. Die Außenpolitik stellt sich damit bewusst in den Dienst der Eskalation, tut also genau das Gegenteil von dem, was man von einer vernünftigen Außenpolitik erwartet.
Wir haben es also mit einer Militarisierung der Außenpolitik zu tun. Im Westen hängt man dem Phantasma an, die Ukraine könne den auf ihrem Territorium geführten Krieg gegen Russland gewinnen. Wer glaubt, ein Krieg gegen Russland sei zu gewinnen, vergisst, dass es sich dabei um eine der beiden größten Atommächte der Welt handelt oder nimmt selbstverständlich an, dass der Krieg sich weiter auf den Gebrauch konventioneller Waffen beschränken wird.
Sollte Russland vom Westen in der Ukraine weiterhin vorgeführt und in die Enge getrieben werden, ist das aber keineswegs selbstverständlich. US- Präsident Joseph Biden hat in Richtung des russischen Präsidenten Wladimir Putin mit drohender Gebärde gesagt: "Du weißt nicht, was auf dich zukommt." Genauso wenig aber weiß der Westen, was auf ihn zukommt.
Prof. Dr. Ralf Harvetz, geb. 1965, Politikwissenschaftler, Keimyung University, Daegu, Südkorea